Der Seelensammler
erzählen ihm alles und lassen uns von ihm helfen.«
Schalber schwieg nachdenklich. »Gut, warum eigentlich nicht? Wollen
wir ihn sofort aufsuchen?«
»Wozu kostbare Zeit verlieren? Aber geh mir voraus, wenn wir die
Kirche verlassen.«
»Wenn dich das beruhigt.« Schalber lief durch das Kirchenschiff.
Die Basilika wurde gerade geschlossen, und die Gläubigen stauten
sich vor dem Hauptportal. Sandra folgte dem Interpolbeamten, der sich hin und
wieder nach ihr umdrehte, in einigen Metern Abstand. Er ging bewusst langsam,
damit sie hinterherkam. Schon bald geriet er ins Gedränge, trotzdem konnte
Sandra ihn im Auge behalten. Schalber drehte sich erneut nach ihr um und gab
ihr durch eine Geste zu verstehen, dass er nichts dafür konnte. Auch Sandra
wurde von der Menge mitgerissen, konnte Schalber aber im Auge behalten. Dann
geriet vor ihr jemand ins Stolpern. Protestgeschrei wurde laut, es galt dem,
der gedrängelt hatte. Mühsam bahnte sich Sandra einen Weg durch die Menge. Sie
konnte den Hinterkopf des Beamten nirgendwo mehr entdecken. Indem sie
rücksichtslos die Ellenbogen ausfuhr, schaffte sie es, ins Freie zu gelangen.
Draußen auf dem Kirchplatz sah sie sich um.
Schalber war verschwunden.
10 Uhr 34
Ein Telefonat hatte genügt, um Camilla Rocca handeln zu
lassen. Ohne dass sie irgendeinen Beweis gehabt hätte.
Endlich hatte der Täter einen Namen, Astor Goyash, und das genügte
ihr.
Das Hotel Exedra lag an der einstigen Piazza Esedra, die so hieß,
weil sie die halbkreisförmige Exedra oder Nische der Diokletiansthermen
nachzeichnete, deren Ruinen man noch heute bewundern konnte. In den
Fünfzigerjahren war der Platz dann in Piazza della Repubblica umbenannt worden,
doch die Römer hatten sich nie richtig daran gewöhnen können und benutzten nach
wie vor den alten Namen.
Das Luxushotel lag gegenüber dem großen Najadenbrunnen auf der
linken Seite des Platzes. Von der Autobahn aus brauchte Marcus eine halbe
Stunde, um sein Ziel zu erreichen. Er konnte nur hoffen, Camilla zu finden,
bevor sie einen irreparablen Schaden anrichtete.
Noch wusste er nicht, was ihn erwartete. Den Grund für den Tod des
kleinen Filippo kannte er nach wie vor nicht. Diesmal war die Wahrheit, die ihm
der andere Pönitenziar enthüllte, nicht auf den ersten Blick zu erfassen. »Du
bist genauso gut wie er. Du bist wie er«, hatte Clemente zu ihm gesagt. Aber
das stimmte nicht. Bisher hatte Marcus sich nie gefragt, wo sich sein Kollege
aufhielt. Aber er war sich sicher, dass der andere ihn aus der Ferne
beobachtete und jeden seiner Schritte bewertete. Irgendwann wird er auftauchen,
sagte sich Marcus. Bestimmt würden sie sich am Ende begegnen, und dann würde ihm
der andere alles erklären.
Marcus betrat das Hotel und ging an einem Portier in Livree und
Zylinder vorbei. Das Licht der Kristallleuchter spiegelte sich im kostbaren
Marmor, die Einrichtung war luxuriös. Er hielt sich in der Lobby auf wie ein
ganz normaler Gast und überlegte, wie er es anstellen sollte, Camilla zu
finden.
Er sah, wie mehrere junge Leute in eleganter Abendkleidung
hereinkamen. Marcus machte ihnen Platz. In diesem Moment brachte ein
Laufbursche ein großes Paket mit einer roten Schleife und ging zur Rezeption.
»Das ist für Astor Goyash.«
Der Portier zeigte ans Ende des Saals: »Die Geburtstagsfeier findet
auf der Dachterrasse statt.«
Da begriff Marcus, wozu das Geschenk diente, das er bei Camilla
Rocca gesehen hatte. Das Gleiche galt für das neue Kleid: Beides war notwendig,
um sich unauffällig ins Exedra einschleichen zu können.
Er sah, dass sich der Laufbursche zusammen mit anderen Gästen in die
Schlange vor dem Fahrstuhl einreihte, der direkt zur Dachterrasse hinauffuhr.
Zu denjenigen, die kontrollierten, wer einstieg, gehörten auch die beiden
Gorillas, die in Canestraris Praxis und dessen Klinik Jagd auf ihn gemacht
hatten.
Astor Goyash würde an diesem Abend anwesend sein. Doch angesichts
der Sicherheitsmaßnahmen war es so gut wie unmöglich, an ihn heranzukommen.
Deshalb hatte der geheimnisvolle Pönitenziar Camilla eine Alternative genannt.
Marcus musste das Zimmer 303 noch vor dieser Frau erreichen.
Die Hoteltüren öffneten sich, und eine von Leibwächtern eskortierte
Gruppe kam herein. Sie umgab einen nicht sehr großen, etwa siebzigjährigen Mann
mit grau meliertem Haar. Er hatte ein gebräuntes, zerfurchtes Gesicht und
eisblaue Augen.
Astor Goyash.
Marcus sah sich um und befürchtete, Camilla könnte jeden
Weitere Kostenlose Bücher