Der Seelensammler
das woanders herstammte, aus einem anderen Leben.
Camilla und der Junge sahen sich an. Suchte die Mutter in seinen
Augen nach ihrem Sohn? Hoffte sie, dass Filippo sie in diesem Moment ebenfalls
sehen konnte?
Marcus begriff, dass der einzige Beweis, der den alten Goyash mit
dem Tod des Kindes in Verbindung bringen konnte, in der Brust seines Enkels
eingeschlossen war. Eine Biopsie des Herzens und ein DNA-Abgleich mit Filippos
Verwandten würden genügen, um ihn festzunageln. Doch Marcus bezweifelte, dass
diese Form von Gerechtigkeit das Leid der Mutter lindern könnte. Der Schmerz
wäre unerträglich, und deshalb beschloss er zu schweigen. Er wollte Camilla nur
noch aus diesem Zimmer fortbringen. Die Frau hatte ein anderes Kind, an das sie
denken musste.
Er fand den Mut, den Körperkontakt zwischen ihr und dem jungen
Goyash zu unterbrechen. Er fasste sie an den Schultern und wollte sie zum
Ausgang schieben.
Camilla fügte sich, löste in einer zärtlichen Abschiedsgeste sanft
die Hand von der Brust des Jungen.
Dann ging sie mit Marcus zur Tür. Sie liefen durch den Hotelflur in
Richtung Aufzug. Plötzlich drehte sich Camilla zu ihrem Retter um, so als sähe
sie ihn zum ersten Mal. »Ich weiß, wer du bist! Ein Priester, nicht wahr?«
Marcus war sprachlos und wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
Er nickte nur und wartete.
»Er hat mir von dir erzählt«, fuhr die Frau fort.
Da verstand Marcus, dass sie den geheimnisvollen Pönitenziar meinte.
»Vor einer Woche hat er mir am Telefon gesagt, dass ich dir hier
begegnen werde.« Camilla hob den Kopf und sah ihn seltsam forschend an. Sie
schien Angst vor ihm zu haben. »Er hat mich gebeten, dir auszurichten, dass ihr
euch dort treffen werdet, wo alles begonnen hat. Aber
diesmal wirst du den Teufel suchen müssen. «
22 Uhr 07
Sandra hatte den 52er an der Endhaltestellte an der Piazza
San Silvestro genommen und war dann auf Höhe der Via Paisiello ausgestiegen.
Von dort aus hatte sie mit dem 911er die Piazza Euclide erreicht. Sie war an
der unterirdischen Haltestelle ausgestiegen und hatte den aus Viterbo kommenden
Zug genommen, der auf dem letzten Stück unter der Erde verschwand und den
Norden der Stadt mit dem Zentrum verband. Der einzige Halt war Piazzale
Flaminio. Hier konnte sie in die Metro umsteigen und dann in Richtung Anagnina
weiterfahren. An der Haltetelle Furio Camillo war sie wieder an die Oberfläche
gekommen und hatte ein Taxi genommen.
Das Umsteigen hatte jedes Mal nur wenige Sekunden gedauert, und die
Fahrtziele waren rein zufällig gewählt, um etwaige Verfolger abzuschütteln.
Sandra traute Schalber nicht über den Weg. Der Interpolbeamte hatte
ihr Verhalten genau vorhergesehen. Auch wenn er ihr am Ausgang der Kirche Santa
Maria sopra Minerva entwischt war, hatte er ihr bestimmt aufgelauert und sich
erneut an ihre Fersen geheftet. Doch nach diesen Vorsichtsmaßnahmen dürfte sie
ihn abgeschüttelt haben. Sandra hatte nämlich noch etwas vor, bevor sie ins
Hotel zurückkehrte.
Sie wollte einen neuen Bekannten besuchen.
Das Taxi setzte sie vor dem Eingang der großen Poliklinik ab. Sandra
folgte den Schildern zur Intensivstation.
Das Personal der Gemelli-Klinik nannte diesen Bereich nur die Grenze .
Sie passierte eine Schiebetür und stand in einem Warteraum mit vier
Plastikstuhlreihen. Alle Stühle waren miteinander verbunden und genauso blau
wie die Wände, die sie umgaben. Auch die Heizkörper hatten die gleiche Farbe
sowie die Kittel der Ärzte und Pfleger, ja, sogar der Wasserspender. Der Effekt
war seltsam monoton.
Die zweite Tür war eine Sicherheitsschleuse. Um weiter vordringen zu
können, brauchte man eine Magnetkarte. Außerdem gab es einen Polizeibeamten,
der davor Wache hielt. Er erinnerte daran, dass ein gefährlicher
Gewaltverbrecher auf der Station lag, auch wenn er im Moment niemandem Schaden
zufügen konnte. Sandra zeigte dem Kollegen und einer Krankenschwester ihren
Dienstausweis. Letztere erklärte ihr die für einen Besuch notwendigen
Vorbereitungsmaßnahmen. Sie forderte sie auf, Schuhüberzieher, einen sterilen
Kittel und eine Haube anzuziehen. Dann drückte sie den Türöffner und ließ sie
eintreten.
Der lange Flur, der vor ihr lag, erinnerte sie an ein Aquarium. An
das in Genua, in dem sie mehrmals mit David gewesen war. Sie liebte Fische, war
wie hypnotisiert von ihren Bewegungen und hätte ihnen stundenlang zuschauen können.
Vor ihr befand sich eine Reihe von Bassins, die in Wirklichkeit durch
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