Der Seelensammler
Glaswände
voneinander getrennte Reanimationsräume waren. Das Licht war gedämpft, und es
herrschte eine merkwürdige Stille. Wenn man genau zuhörte, merkte man jedoch,
dass sie aus Geräuschen bestand – so tief und schwach wie Atemzüge, so
rhythmisch und konstant wie ein dumpfes Pochen.
Es klang, als schliefe die ganze Station.
Sandra ging über das Linoleum und kam an dem winzigen Personalraum
vorbei. Dort saßen zwei Frauen im Halbdunkel vor einer Konsole. Auf ihren
Gesichtern lag der Widerschein der Monitore, die die Vitalfunktionen der
einzelnen Patienten anzeigten. Hinter ihnen saß ein junger Arzt an einem Stahlschreibtisch
und machte sich Notizen.
Zwei Krankenschwestern und ein Arzt – mehr Personal wurde hier
nachts nicht gebraucht. Sandra stellte sich vor, fragte nach dem Weg und bekam
die von ihr gewünschte Information.
Während sie an den Bassins der Fischmenschen vorbeilief, sah sie sie
reglos in ihren Betten liegen und in einem Meer aus Schweigen dahintreiben. Sie
ging zur letzten Glaskabine und merkte, dass jemand sie ansah. Es war eine zierliche
junge Frau in einem weißen Kittel, die in etwa ihr Alter hatte. Sandra trat
neben sie. In dem Raum befanden sich sechs Betten, aber nur eines davon war
belegt. Und zwar von Jeremiah Smith. Er war intubiert, und sein Brustkorb hob
und senkte sich rhythmisch. Er sah deutlich älter aus als fünfzig.
Erst in diesem Moment drehte sich die junge Frau um und sah ihr ins
Gesicht. Sandra hatte ein Déjà-vu-Erlebnis. Gleich darauf fiel ihr ein, wo sie
sie schon einmal gesehen hatte, und sie bekam eine Gänsehaut. Am Bett dieses
Monsters stand der Geist eines seiner Opfer.
»Teresa!«, sagte sie.
Die andere lächelte. »Ich bin Monica, Teresas Zwillingsschwester.«
Die junge Frau vor ihr war nicht nur die Schwester einer
Unschuldigen, die von Jeremiah umgebracht worden war. Sie war auch die Ärztin,
die ihm das Leben gerettet hatte.
»Ich heiße Sandra Vega und bin von der Polizei.« Sie gab ihr die
Hand.
Die junge Frau erwiderte ihren Händedruck. »Bist du das erste Mal
hier?«
»Wieso, sieht man das?«
»So, wie du ihn angesehen hast …«
Sandra musterte Jeremiah Smith erneut. »Wieso, wie habe ich ihn denn
angesehen?«
»Keine Ahnung, so ähnlich wie einen Goldfisch in einem Aquarium.«
Sandra schüttelte amüsiert den Kopf.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein, im Gegenteil.«
»Ich komme jeden Abend her. Bevor meine Nachtschicht beginnt oder
nach Ende meiner Tagschicht. Ich bleibe eine Viertelstunde und gehe dann
wieder. Keine Ahnung, warum. Mir ist einfach danach.«
Sandra bewunderte Monicas Mut. »Warum hast du ihn gerettet?«
»Warum stellt ihr mir alle die gleiche Frage?« Es schien die junge
Frau nicht wirklich zu stören. »Eigentlich müsste es doch heißen: ›Warum hast
du ihn nicht sterben lassen?‹. Das ist ein Unterschied, findest du nicht?«
Stimmt, daran hatte Sandra noch gar nicht gedacht.
»Wenn du mich fragen würdest, ob mir jetzt danach ist, ihn
umzubringen, würde ich Ja sagen – vorausgesetzt, ich müsste keinerlei Konsequenzen
befürchten. Aber was hätte es mir gebracht, ihn sterben zu lassen, ohne
einzuschreiten? So wie einen ganz normalen Menschen am Ende seines Lebens, der
einen natürlichen Tod erleidet. Er ist aber kein normaler Mensch und hat das
nicht verdient. Meiner Schwester war es auch nicht vergönnt.«
Sandra sah sich zum Nachdenken gezwungen. Sie suchte nach Davids
Mörder und redete sich ein, nur die Wahrheit wissen zu wollen. Damit der Tod
ihres Mannes nicht mehr ganz so sinnlos wäre. Damit Gerechtigkeit hergestellt
würde. Doch wie hätte sie sich an Monicas Stelle verhalten?
Die junge Frau sprach weiter: »Nein, meine Rache besteht darin, ihn
in diesem Bett zu sehen. Kein Prozess, kein Schwurgericht und keine
Paragrafenreiterei. Mein wahrer Triumph ist zu wissen, dass er so bleiben wird:
ein Gefangener seiner selbst. Aus diesem Gefängnis wird er nie mehr freikommen.
Und ich kann ihn jeden Abend besuchen, ihm ins Gesicht sehen und mir sagen,
dass Gerechtigkeit hergestellt wurde.« Sie wandte sich wieder an Sandra. »Welcher
Angehörige eines Mordopfers kann das schon?«
»Ja, das stimmt.«
»Ich habe eine Herzmassage bei ihm gemacht, meine Hände auf diesen
Brustkorb, auf diese Tätowierung gelegt … Töte mich .«
Sie unterdrückte ihren Ekel. »An meinen Kleidern haftete der Gestank seiner
Exkremente, seines Urins. Sein Speichel klebte an meinen Fingern.« Sie schwieg.
»In
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