Der Seelensammler
meinem Job sieht man so einiges. Krankheiten sind ein großer Gleichmacher.
Und in Wahrheit retten wir Ärzte niemanden. Jeder rettet sich selbst: indem er
sich für das richtigere Leben, den besseren Weg entscheidet. Für jeden von uns
kommt der Moment, in dem er sich mit Exkrementen und Urin besudelt. Und es ist
traurig, wenn man erst an diesem Tag herausfindet, wer man ist.«
Sandra staunte über so viel Weisheit. Immerhin war Monica nicht
älter als sie selbst und wirkte sehr zerbrechlich. Gern hätte sie ihr noch
länger zugehört.
Doch die junge Frau sah auf die Uhr. »Tut mir leid, dass ich dich
aufgehalten habe. Ich sollte jetzt gehen, gleich beginnt meine Schicht.«
»Es war mir ein Vergnügen, dich kennenzulernen. Ich habe heute Abend
viel von dir gelernt.«
Die junge Frau lächelte. »Was dich nicht umbringt, macht dich stark,
sagt mein Vater immer.«
Sandra sah Monica nach, die durch den verlassenen Flur lief. Wieder
drängte sich ihr ein Gedanke auf, und wieder verdrängte sie ihn. Sie war davon
überzeugt, dass Schalber ihren Mann getötet hatte. Und sie war mit ihm ins Bett
gegangen! Aber sie hatte Zärtlichkeit gebraucht – David hätte das verstanden.
Sie ging zur Tür des Reanimationsraums, nahm einen Mundschutz aus
einem sterilen Behälter und zog ihn an. Dann trat sie über die Schwelle dieser
kleinen Hölle, die nur einen einzigen Verdammten beherbergte.
—
Während Sandra auf Jeremiah Smiths Bett zuging, zählte sie
ihre Schritte: sechs, nein, sieben. Sie starrte ihn an. Der Goldfisch war in
Reichweite. Er hatte die Augen geschlossen, war von kalter Gleichgültigkeit
umgeben. Dieser Mann war nicht mehr in der Lage, irgendein Gefühl
hervorzurufen. Weder Angst noch Mitleid.
Neben dem Bett stand ein Sessel. Sandra nahm darin Platz. Sie
stützte die Ellenbogen auf die Knie, verschränkte die Hände und beugte sich zu
ihm vor. Gern hätte sie in seinem Gesicht gelesen, gewusst, was ihn dazu
gebracht hatte, Böses zu tun. Genau das war letztlich die Aufgabe der Pönitenziare:
die menschliche Seele zu ergründen und nach den tieferen Ursachen für eine Tat
zu suchen. Als Polizeifotografin beschäftigte sie sich nur mit dem, was
äußerlich sichtbar war. Mit den Wunden, die das Böse hinterließ.
Ihr fiel das dunkle Leica-Foto wieder ein.
Das ist meine Grenze, dachte sie. Ohne dieses Bild, das unter
Umständen durch einen Fotografenfehler für immer verloren war, konnte sie den
Weg, den David ihr gewiesen hatte, nicht fortsetzen.
Wenn dieses Foto überhaupt irgendeine Bedeutung hatte.
Das äußerlich Sichtbare war ihre Informationsquelle, erlegte ihr
aber auch Schranken auf. Sie merkte, wie gut es ihr tun würde, einmal ihr
Innerstes nach außen zu kehren, alles rauszulassen, den Weg der Vergebung zu
beschreiten. Eine Beichte wäre befreiend gewesen. Deshalb begann sie plötzlich,
mit Jeremiah Smith zu sprechen. »Ich möchte dir die Geschichte von der
grauenhaften smaragdgrünen Krawatte erzählen.« Sie wusste selbst nicht, warum
sie das gesagt hatte – es war ihr einfach so herausgerutscht. »Das Ganze
geschah wenige Wochen bevor mein Mann ermordet wurde. David war von einer
langen Geschäftsreise zurückgekommen. Der Abend verlief genauso wie immer, wenn
wir uns nach langer Zeit wiedergesehen haben. Wir haben gefeiert, nur wir
beide. Der Rest der Welt musste draußen bleiben, wir fühlten uns wie die
letzten Überlebenden des Menschengeschlechts. Verstehst du, was ich meine? Hast
du so etwas jemals erlebt?« Sie schüttelte amüsiert den Kopf. »Nein, ganz
bestimmt nicht. Wie dem auch sei, an jenem Abend war ich zum ersten Mal
gezwungen, Liebe zu heucheln. David hat mir eine Routinefrage gestellt: ›Wie
geht’s? Alles in Ordnung?‹ Wie oft sagen wir das Tag für Tag, ohne eine ehrliche
Antwort darauf zu erwarten? Aber als ich ihm sagte, dass alles bestens sei, war
das keine Standardantwort, sondern eine Lüge … Denn wenige Tage zuvor war ich
im Krankenhaus gewesen, um abzutreiben.« Sandra spürte, wie ihr die Tränen in
die Augen traten, konnte sie aber gerade noch zurückdrängen. »Dabei wären wir
die idealen Eltern gewesen: Wir haben uns geliebt, konnten uns aufeinander
verlassen. Aber er war Reporter und ständig unterwegs, um Kriege, Revolutionen
und Anschläge zu fotografieren. Und ich bin Polizistin bei der Spurensicherung.
Man kann kein Kind haben, wenn man beruflich ständig sein Leben riskiert so wie
David. Und auch nicht, wenn man täglich sieht, was ich
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