Der Seelensammler
sehe. Da ist zu viel
Gewalt, zu viel Angst im Spiel. Ein Kind kommt unter solchen Umständen nicht
infrage.« Sie sagte es mit Überzeugung, ohne jede Reue. »Und das ist meine
Sünde. Ich werde sie mit mir herumtragen, solange ich lebe. Was ich mir dagegen
nicht verzeihe, ist, dass ich David nicht erlaubt habe mitzureden. Ich habe
seine Abwesenheit ausgenutzt und die Entscheidung allein getroffen.« Sandra
lächelte traurig. »Als ich nach der Abtreibung nach Hause kam, fand ich im Bad
den Schwangerschaftstest, den ich vorher gemacht hatte. Mein Kind oder das, was
man aus mir herausgeholt hatte, war im Krankenhaus geblieben. Ich hatte
gespürt, wie es in mir starb, und es dann im Stich gelassen. Das ist doch
furchtbar, findest du nicht? Auf jeden Fall fand ich, dass dieses Wesen eine
Beerdigung verdient hatte. Also habe ich eine Schachtel genommen, den
Schwangerschaftstest und eine Reihe von Gegenständen hineingelegt, die seiner
Mutter und seinem Vater gehörten. Darunter auch Davids einzige Krawatte. In
Smaragdgrün. Anschließend bin ich mit dem Auto von Mailand nach Tellaro
gefahren – zu dem Ort in Ligurien, in dem wir immer unsere Ferien verbracht
haben. Dort habe ich die Schachtel im Meer versenkt.« Sie atmete tief durch.
»Ich habe das noch nie jemandem erzählt. Und es ist absurd, dass ich es
ausgerechnet dir sage. Aber das Beste kommt erst noch: Ich war nämlich fest
davon überzeugt, dass ich die Konsequenzen meines Handelns allein tragen
müsste. Doch ohne es zu wissen, habe ich damit eine Katastrophe angerichtet.
Aber das habe ich erst im Nachhinein gemerkt, als es schon zu spät war: Mit der
Liebe, die ich für mein Kind hätte empfinden können, hatte ich auch meine Liebe
zu David weggeworfen.« Sie wischte sich eine Träne ab. »Ich habe ihn geküsst,
ihn gestreichelt, mit ihm geschlafen – aber ohne das Geringste zu spüren. Die
schützende Höhle, die sich dieses Kind in mir gesucht hatte, um zu überleben,
war eine Leerstelle geworden. Ich konnte meinen Mann erst wieder lieben, als er
tot war.«
Sandra verschränkte die Arme vor der Brust und begann, zu
schluchzen. Es brach nur so aus ihr heraus und ließ sich nicht mehr stoppen.
Gleichzeitig war es befreiend. Nach einigen Minuten putzte sie sich die Nase
und beruhigte sich wieder. Sie musste über sich lachen. Sie war erschöpft, doch
seltsamerweise ging es ihr gut. Noch fünf Minuten!, sagte sie sich. Nur fünf.
Das regelmäßige Piepen des Herzmonitors, an den Jeremiah Smith angeschlossen
war, und das Rauschen der Beatmungsmaschine, die ihn am Leben hielt, hatten
eine hypnotische, entspannende Wirkung auf sie. Sie schloss kurz die Augen und
schlief, ohne es zu merken, ein. Sie sah David vor sich. Sein Lächeln, sein
zerzaustes Haar. Seinen liebevollen Blick. Die Grimasse, die er jedes Mal zog,
wenn er sie traurig oder nachdenklich erlebte. Er schob die Unterlippe vor,
legte den Kopf schräg, kniff sie in beide Wangen und zog sie an sich, um ihr
einen seiner langen Knallküsse zu geben. »Es ist alles in Ordnung, Ginger.« Und
auf einmal fühlte sich Sandra unbeschwert, mit sich im Reinen. Dann winkte ihr
ihr Mann zu, tanzte davon und sang dabei ihr Lied. Cheek to
Cheek . Doch auch wenn die Stimme David zu gehören schien, konnte die
träumende Sandra nicht wissen, dass sie von einem anderen stammte. Und dass sie
ganz real war.
Im Zimmer sang jemand.
22 Uhr 17
Nachdem Marcus mitangesehen hatte, wie Camilla Rocca ihre
Hand überraschenderweise auf den Brustkorb des Jungen mit dem Herzen ihres
Sohnes gelegt hatte, glaubte er erstmals eine Art unsichtbare, barmherzige
Einmischung in sein Leben zu spüren. Angesichts des gewaltigen Universums fühlt
sich der Mensch dermaßen unbedeutend, dass er glaubt, keinen Gott verdient zu
haben, der sich für ihn interessiert. Aber allmählich änderte Marcus seine
Einstellung.
Treffen wir uns, wo alles begonnen hat.
Er würde seinen Gegenspieler kennenlernen. Und er würde seine
Belohnung bekommen und Lara retten.
Der Ort, an dem alles begonnen hatte, war Jeremiah Smiths Villa.
Marcus hielt mit dem Panda vor dem großen Tor. Der Streifenwagen war
nicht mehr da, und auch die Spurensicherung hatte ihre Zelte bereits
abgebrochen. Der Ort lag ebenso verlassen und verwunschen da wie früher, bevor
sein Geheimnis gelüftet worden war. Marcus ging auf das Haus zu. Nur der
Vollmond widersetzte sich der Dunkelheit.
Die Bäume in der Auffahrt wiegten sich im Nachtwind. Das Rauschen
der Blätter klang wie
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