Der Seelensammler
längst
abgehörte Nachricht. Sie war fünf Monate alt.
»Ciao, ich habe mehrfach versucht, dich zu erreichen, aber es meldet
sich immer nur die Voicemail. Ich habe nicht viel Zeit, deshalb zähle ich
sofort auf, was mir fehlt … Mir fehlen deine kalten Füße, die unter der Decke
nach mir tasten, wenn du ins Bett kommst. Mir fehlt, dass du mich Sachen aus
dem Kühlschrank probieren lässt, um zu wissen, ob sie noch gut sind. Dass du
mich um drei Uhr morgens schreiend weckst, weil du Wadenkrämpfe hast. Ja, mir
fehlt sogar, dass du meine Rasierklinge für deine Beine benutzt, ohne mir etwas
davon zu sagen … Wie dem auch sei, hier in Oslo ist es schweinekalt, und ich
kann es kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen. Ich liebe dich, Ginger!«
Davids letzte Worte fassten ihre Beziehung perfekt zusammen. Sie war
von einer Harmonie, wie sie sonst nur bei Schmetterlingen, Schneeflocken und
sehr wenigen Stepptänzern vorkommt.
Sandra schaltet das Handy aus. »Ich liebe dich auch, Fred.«
Jedes Mal, wenn sie die Nachricht abhörte, überkamen sie die
gleichen Gefühle: Sehnsucht, Schmerz, Zärtlichkeit, aber auch Angst. Hinter
diesen letzten Worten verbarg sich eine Frage, und ob sie sie beantworten
wollte, wusste Sandra noch nicht so genau.
Hier in Oslo ist es schweinekalt, und ich kann es
kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen .
Sie war an Davids viele Reisen gewöhnt. Sie gehörten zu seiner Arbeit,
zu seinem Leben einfach dazu. Das war von Anfang an klar gewesen. So gern sie
ihn auch manchmal festgehalten hätte – sie wusste, dass sie ihn ziehen lassen
musste.
Nur dann würde er wieder zu ihr zurückkehren.
Seine Arbeit als Fotoreporter führte ihn oft in höchst unwirtliche
Gegenden. Wer weiß, wie oft er dabei schon sein Leben riskiert hatte! Aber so
war David nun mal, es lag ihm einfach im Blut. Er musste alles mit eigenen
Augen sehen, ungefiltert. Er musste es selbst erleben. Um von einem Krieg berichten
zu können, musste er Brandgeruch riechen, feststellen, dass sich
Kugeleinschläge, abhängig vom Ziel, dem sie gegolten hatten, unterschiedlich
anhörten. Er hatte nie Exklusivverträge mit wichtigen Zeitschriften abschließen
wollen – dabei hätten sie sich um ihn geprügelt! Ihm gefiel die Vorstellung
nicht, weisungsgebunden zu sein. Und Sandra hatte gelernt, ihre schlimmsten
Befürchtungen zu verdrängen, die Angst zu verbannen. Sie hatte versucht, ein
ganz normales Leben zu führen, so als wäre sie mit einem Arbeiter oder Angestellten
verheiratet.
Zwischen ihr und David gab es so etwas wie eine ungeschriebene
Abmachung. Und dazu gehörte auch, sich immer wieder neu zu umwerben. Das war
ihre Art von Beziehung. Es war durchaus vorgekommen, dass er länger in Mailand
blieb und etwas mehr Routine in ihre Beziehung einkehrte.
Bis sie dann eines Tages nach Hause kam und er seine berühmte
Fischsuppe mit mindestens fünf Gemüsesorten kochte. Dazu gab es herzhaftes Pan
di Spagna. Die Suppe war seine Spezialität, aber auch das Signal dafür, dass er
am nächsten Tag abreisen würde. Sie aßen wie immer gemeinsam zu Abend, redeten
über dies und das, und er brachte sie zum Lachen. Danach liebten sie sich. Und
am nächsten Morgen fand sie sich allein im Bett wieder. Er konnte Wochen
fortbleiben, manchmal sogar Monate. Bis er eines Tages durch die Tür kam, und
alles wieder von vorn begann.
David verriet ihr nie, wo er hinfuhr. Bis auf dieses letzte Mal.
Sandra leerte ihr Weinglas in einem Zug. Dass David etwas zustoßen
könnte, hatte sie immer verdrängt. Seine Arbeit war nicht ungefährlich. Aber
wenn er schon sterben musste, dann doch wenigstens im Krieg oder von Hand irgendeines
Verbrechers, über den er Nachforschungen anstellte! So albern das auch war –
sie konnte einfach nicht akzeptieren, dass sein Tod so banal gewesen war.
Sie verrannte sich gerade in diesen Gedanken, als ihr Handy
klingelte. Ein Blick auf das Display zeigte eine ihr nicht bekannte Nummer. Es
war kurz vor dreiundzwanzig Uhr.
»Spreche ich mit der Frau von David Leoni?«
Der Mann hatte einen seltsamen deutschen Akzent.
»Ja, und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Schalber, ich arbeite für die Firma Interpol. Wir sind Kollegen.«
Sandra stand mühsam auf und rieb sich die Augen.
»Bitte entschuldigen Sie, dass ich so spät anrufe, aber ich habe
Ihre Nummer soeben erst erhalten.«
»Und der Anruf konnte nicht bis morgen warten?«
Am anderen Ende der Leitung ertönte unbekümmertes Gelächter. Egal,
wer
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