Der Seelensammler
auch keinerlei Folterspuren auf. Er hat sie
gefesselt, am Leben gelassen und ihnen nach einem Monat die Kehle
durchgeschnitten.«
»Aber Lara hat er aus ihrer Wohnung entführt«, stellte Marcus fest.
»Wieso das?«
»Manche Serienmörder perfektionieren ihre Vorgehensweise, während
ihre sadistischen Phantasien immer konkreter werden. Sie fügen neue Elemente
hinzu, die ihre Lust steigern. Mit der Zeit wird das Morden zu einer Art Job,
in dem sie sich verbessern wollen.«
Clementes Erklärung klang plausibel, aber so richtig überzeugt war
Marcus nicht. Er beschloss, es fürs Erste darauf beruhen zu lassen. »Erzähl mir
von Jeremiahs Villa.«
»Die Polizei durchsucht sie noch, deshalb können wir dort noch nicht
hin. Aber anscheinend hat er seine Opfer nicht dorthin gebracht, sondern an
einen anderen Ort. Wenn wir den finden, finden wir auch Lara.«
»Aber die Polizei sucht doch gar nicht nach ihr.«
»Vielleicht gibt es in dieser Villa etwas, was sie mit ihr in
Zusammenhang bringen.«
»Sollten wir da nicht ein wenig nachhelfen?«
»Nein.«
»Aber warum denn nicht?«, fragte Marcus fassungslos.
»So arbeiten wir nun mal nicht«, erwiderte Clemente resolut.
»Es könnte ihre Chancen verbessern, gerettet zu werden.«
»Die Polizei könnte dich behindern. Und du musst vollkommen frei
agieren können.«
»Frei agieren?«, protestierte Marcus. »Ich weiß nicht mal, wo ich
anfangen soll!«
Clemente baute sich vor ihm auf und sah ihm direkt in die Augen.
»Ich weiß, dass du nicht daran glaubst und dass das alles neu für dich zu sein
scheint. Trotzdem: Du machst das nicht zum ersten Mal. Du warst sehr gut in
deinem Job und wirst es auch wieder sein. Wenn jemand das Mädchen finden kann,
dann du! Und je eher du das begreifst, desto besser ist es für alle
Beteiligten. Ich habe nämlich so das dumpfe Gefühl, dass Lara nicht mehr viel
Zeit bleibt.«
Marcus sah über Clementes Schulter hinweg und betrachtete den an das
Beatmungsgerät angeschlossenen Patienten, der zwischen Leben und Tod schwebte.
Dann sah er sein eigenes Gesicht in der Scheibe, das das Bild wie bei einer
optischen Täuschung überlagerte. Sofort wandte er sich ab. Es war nicht der
Anblick des Monsters, der ihn verstörte, er ertrug einfach keine Spiegel: Noch
gelang es ihm nicht, sich darin wiederzuerkennen. »Und was geschieht mit mir,
wenn ich versage?«
»Aha, das ist es also: Du hast Angst um dich selbst.«
»Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, Clemente.«
»Das wirst du noch früh genug erfahren, mein Freund.« Er reichte ihm
die Mappe. »Wir verlassen uns auf dich. Aber von nun an bist du ganz auf dich
allein gestellt.«
20 Uhr 56
Die dritte Lektion war die, dass Häuser einen Geruch
hatten. Er kommt von denjenigen, die darin wohnen, und ist bei jedem Haus
anders, einzigartig. Wechseln die Bewohner, verschwindet er. Deshalb suchte
Sandra Vega nach dem von David, sobald sie ihre Wohnung im Navigli-Viertel
betrat.
Rasierwasser und Aniszigaretten.
Sie wusste, dass sie irgendwann nach Hause kommen und ihn nicht mehr
wahrnehmen würde. War der Duft erst einmal verflogen, würde David tatsächlich
nicht mehr existieren. Nie mehr.
Dieser Gedanke trieb sie zur Verzweiflung. Sie versuchte, so selten
wie möglich zu Hause zu sein. Um die Wohnung nicht durch ihre Anwesenheit zu
verunreinigen, um sicherzustellen, dass ihr Geruch nicht endgültig die Oberhand
gewann.
Dabei hatte sie das billige Rasierwasser anfangs gehasst, das David
stur im Supermarkt kaufte. Sie fand es aufdringlich und penetrant. In den drei
Jahren ihres Zusammenlebens hatte sie mehrfach versucht, ihn davon abzubringen.
Zu jedem Geburtstag und Jahrestag, zu jedem Weihnachtsfest hatte es neben dem
eigentlichen Geschenk immer auch ein neues Duftwasser gegeben. Er hatte es eine
Woche lang benutzt und es dann zu den anderen auf die Badezimmerkonsole
gestellt. Um sich zu rechtfertigen, hatte er jedes Mal gesagt: »Tut mir leid,
Ginger, aber das bin ich einfach nicht.« Dass er ihr dabei auch noch
zuzwinkerte, hatte sie zur Weißglut getrieben.
Die Vorstellung, dass sie einmal zwanzig Flaschen davon kaufen und
in ihrer Wohnung verteilen würde, wäre ihr damals völlig absurd erschienen.
Doch nun hatte sie eine Riesenangst davor, es könnte irgendwann aus dem Handel
genommen werden. Sie hatte auch diese furchtbaren Aniszigaretten gekauft. Sie
ließ sie in sämtlichen Zimmern in Aschenbechern abbrennen. Allerdings war das
Ergebnis alles andere als perfekt: Es war David, der
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