Der Seelensammler
hatte ihm viel zu erzählen, hoffte aber vor allem,
dass er ihr auch etwas sagen würde. Zum Beispiel, dass er sich über ihre
Rettung freue, auch wenn es dumm von ihr gewesen sei, ihre Spuren zu verwischen.
Denn wäre er ihr am Vorabend in die Gemelli-Klinik gefolgt, wären die Dinge vielleicht
anders gelaufen. Denn Schalber hatte sie nur schützen wollen.
Aber der Satz, den sie am meisten von ihm ersehnte, war: »Wann sehen
wir uns wieder?« Sie hatten sich geliebt, und es war schön gewesen. Sie wollte
ihn nicht verlieren. Auch wenn sie es noch nicht zugeben konnte: Sie war auf
dem besten Weg, sich in ihn zu verlieben.
Vom Treppenabsatz aus sah sie, dass die Tür offen stand. Ohne zu
zögern, betrat sie erwartungsvoll die Wohnung. Sie hörte Geräusche aus der
Küche und ging ihnen nach. Doch als sie sie betrat, sah sie sich einem Fremden
gegenüber. Er trug einen dunkelblauen Anzug und machte einen sehr eleganten
Eindruck.
Sie brachte nur ein »Hallo« heraus.
Er musterte sie erstaunt. »Haben Sie Ihren Mann nicht mitgebracht?«
Sandra verstand nicht, beeilte sich aber, die Situation klarzustellen:
»Eigentlich suche ich nach Thomas Schalber.«
Der Mann überlegte. »Vielleicht war das der Vormieter?«
»Ich dachte, er sei Ihr Kollege. Kennen Sie ihn nicht?«
»Soweit ich weiß, kümmert sich nur unsere Agentur um den Verkauf.
Und bei uns gibt es niemanden, der so heißt.«
Langsam dämmerte es Sandra, auch wenn sie noch nicht alles verstand.
»Sie arbeiten für eine Immobilienagentur?«
»Ja. Haben Sie denn unser Schild an der Tür nicht gesehen?«, sagte
der Mann salbungsvoll. »Die Wohnung steht zum Verkauf.«
Sandra war gleichzeitig enttäuscht und überrascht. »Seit wann?«
Der Verkäufer war verwirrt. »Die Wohnung hat seit über einem halben
Jahr leer gestanden.«
Sandra fehlten die Worte. Ihr fiel keine überzeugende Erwiderung
ein.
Der Mann trat freundlich auf sie zu. »Ich erwarte Kaufinteressenten.
Wenn Sie sich die Wohnung in der Zwischenzeit ansehen wollen …«
»Nein, danke!«, erwiderte Sandra. »Das ist ein Irrtum, bitte
entschuldigen Sie.« Sie wollte gehen, doch der Verkäufer ließ nicht locker.
»Wenn Ihnen die Möbel nicht gefallen, müssen Sie sie nicht
übernehmen. Wir können mit dem Preis runtergehen.«
Sie eilte die Stufen hinab. Unten angekommen, war ihr schwindelig,
und sie musste sich an die Wand lehnen. Nach einigen Minuten trat sie hinaus
auf die Straße und stieg zu Camusso in den Wagen.
»Warum sind Sie so blass? Soll ich Sie zurück ins Krankenhaus
bringen?«
»Es geht mir gut.« Aber das war nicht die Wahrheit. Sie war wütend.
Noch so ein Täuschungsmanöver von Schalber! Hatte der Beamte ihr nur Lügen
erzählt? Und die gemeinsam verbrachte Nacht? Was hatte die zu bedeuten?
»Wen haben Sie in diesem Gebäude gesucht?«, fragte der Commissario.
»Einen Freund, der bei Interpol arbeitet. Aber er war nicht dort,
und ich weiß nicht, wo er stecken könnte.«
»Ich kann ihn für Sie ausfindig machen, wenn Sie wollen. Ich kenne
die Kollegen von der römischen Niederlassung gut, so gesehen ist das kein
großer Aufwand für mich.«
Sandra hatte das Bedürfnis, der Sache auf den Grund zu gehen. Mit
dieser Ungewissheit wollte sie nicht nach Mailand zurückkehren. Sie musste
erfahren, ob Schalber auch nur ansatzweise etwas für sie empfand. »Das wäre
sehr nett von Ihnen, danke.«
13 Uhr 55
Bruno Martini hatte sich in eine der Garagen im Hof seines
Wohnblocks zurückgezogen. Er nutzte sie als Werkstatt. Hier vertrieb er sich
die Zeit mit kleineren Reparaturen. Er brachte Elektrogeräte wieder in Ordnung,
machte aber auch Schreinerarbeiten und versuchte sich als Mechaniker. Als
Marcus ihn hinter dem hochgezogenen Rolltor entdeckte, widmete er sich gerade
einem Vespamotor.
Alices Vater bemerkte ihn nicht. Der Regen fiel dicht wie ein
Vorhang und öffnete sich erst, als Marcus schon ganz nah herangekommen war.
Martini kniete neben dem Motorroller, sah zu ihm auf und erkannte
ihn wieder. »Was willst du denn noch von mir?«, fragte er barsch.
Der groß gewachsene Mann hatte sich einen Muskelpanzer gegen die
Widrigkeiten des Lebens zugelegt. Aber gegen den Verlust seiner Tochter war er
machtlos. Seine Ruppigkeit war sein einziger Schutz, ohne sie wäre er zusammengebrochen.
Deshalb nahm Marcus sie ihm nicht übel. »Kann ich kurz mit dir reden?«
Martini überlegte kurz. »Komm rein, du wirst ja ganz nass!«
Marcus trat näher, und der andere stand auf,
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