Der Seelensammler
wischte sich die Hände
an seinem schmutzigen Overall ab. »Ich habe heute Morgen mit Camilla Rocca
gesprochen«, sagte der Mann. »Sie ist fix und fertig, weil sie jetzt weiß, dass
es keine Gerechtigkeit geben wird.«
»Ich bin nicht ihretwegen gekommen. Leider kann ich nichts mehr für
sie tun.«
»Für manche ist es besser, sie bleiben im Unklaren.«
Marcus wunderte sich, dass ausgerechnet Martini das sagte: der
Vater, der nicht aufhörte, nach seiner Tochter zu suchen, sich eine illegale
Waffe beschafft und sich mit der Obrigkeit angelegt hatte, um Selbstjustiz zu
verüben. War es wirklich eine so gute Idee gewesen, herzukommen? »Und du?«,
fragte er. »Möchtest du nach wie vor wissen, was Alice zugestoßen ist?«
»Seit drei Jahren suche ich nach ihr, als könnte sie noch leben.
Gleichzeitig beweine ich sie, als wäre sie tot.«
»Das ist keine Antwort!«, erwiderte Marcus bewusst barsch. Danach
war Martini gleich weniger abweisend.
»Weißt du, was es heißt, nicht sterben zu können? Es bedeutet,
weiterleben zu müssen wie ein Zombie. Eine absurde Strafe, findest du nicht
auch? Nun, ich kann nicht sterben, bis ich weiß, was Alice zugestoßen ist. So
lange muss ich weiterleben und leiden.«
»Warum quälst du dich so?«
»Vor drei Jahren habe ich noch geraucht.«
Marcus verstand nicht, was das mit der Sache zu tun hatte, ließ ihn
aber weiterreden.
»Damals im Vergnügungspark, da habe ich mich kurz entfernt, um eine
Zigarette zu rauchen. Und in diesem Moment ist Alice verschwunden. Ihre Mutter
war zwar auch da, aber ich hätte auf sie aufpassen müssen. Ich bin ihr Vater,
es ist meine Aufgabe, sie zu beschützen. Stattdessen habe ich mich mit etwas
anderem beschäftigt.«
Diese Antwort genügte Marcus. Er steckte eine Hand in die Tasche und
zog die Mappe hervor, die ihm Clemente gegeben hatte.
C.g. 294-21-12.
Er schlug sie auf und zog ein Blatt heraus. »Was ich dir jetzt
gleich sagen werde, ist an eine Bedingung geknüpft: Du darfst mich niemals
fragen, woher ich davon erfahren habe. Und du darfst niemals verraten, dass du
es von mir weißt. Versprochen?«
Der Mann sah ihn befremdet an. »Versprochen.« Etwas Neues schwang in
seiner Stimme mit: Hoffnung.
Marcus sprach weiter: »Ich muss dich warnen: Was du jetzt hören
wirst, wird dir ganz und gar nicht gefallen. Bist du trotzdem bereit dafür?«
»Ja.« Martini brachte nur ein Flüstern heraus.
Marcus versuchte, es ihm so behutsam wie möglich beizubringen.
»Alice wurde vor drei Jahren von einem Mann entführt, der sie ins Ausland
verschleppt hat.«
»Was bedeutet das?«
»Der Typ ist ein Psychopath. Er glaubt, seine tote Frau wäre in
deiner Tochter wiedergeboren worden. Deshalb hat er sie entführt.«
»Das heißt …« Er konnte es kaum fassen.
»Ja, sie ist noch am Leben.«
Martinis Augen füllten sich mit Tränen. Der große Mann drohte
zusammenzubrechen.
Marcus hielt ihm das Blatt hin. »Hier steht alles, was du wissen
musst, um sie zu finden. Aber versprich mir, dass du nicht im Alleingang
handelst.«
»Versprochen.«
»Am Ende des Blattes steht die Telefonnummer einer Frau, die sich auf
die Suche nach Vermissten spezialisiert hat, vor allem auf Kinder. Wende dich
an sie! Sie scheint eine gute Polizistin zu sein und heißt Mila Vasquez.«
Martini nahm das Blatt und starrte ihn sprachlos an.
»Ich sollte jetzt lieber gehen.«
»Warte!«
Marcus blieb stehen, merkte aber, dass der Mann kein Wort mehr
herausbrachte. Er wurde von stummen Schluchzern geschüttelt. Marcus wusste, was
ihm durch den Kopf ging: Er dachte nicht nur an Alice. Endlich konnte Martini
darauf hoffen, seine Familie wiederzuvereinen. Seine Frau, die ihn wegen seines
Verhaltens nach dem Verschwinden der Tochter verlassen hatte, würde vielleicht
zu ihm zurückkommen. Und mit ihr auch das andere Kind. Und damit würde die
Liebe zurückkehren.
»Ich will nicht, dass Camilla Rocca etwas davon erfährt«, sagte
Martini. »Zumindest noch nicht. Es wäre furchtbar für sie zu wissen, dass es
für Alice noch Hoffnung gibt, während ihr Sohn Filippo nie wiederkommen wird.«
»Ich hatte auch nicht vor, es ihr zu sagen. Außerdem hat die Frau ja
immer noch ihre Familie, die ihr helfen wird.«
Martini hob den Kopf und sah ihn erstaunt an. »Welche Familie? Ihr
Mann hat sie vor zwei Jahren verlassen, sich mit einer anderen ein neues Leben
aufgebaut. Die beiden haben sogar einen Sohn. Deshalb haben wir uns auch angefreundet:
weil wir beide allein
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