Der Seelensammler
Ermittlern gelingen würde, die Spur zu dem
Pönitenziar zurückzuverfolgen? Hoffentlich nicht.
Sobald die Nachricht von Laras Befreiung an die Öffentlichkeit
gedrungen war, hatten die Medien die Poliklinik regelrecht gestürmt:
Journalisten, Kameraleute und Fotografen hatten im Park davor Stellung bezogen.
Laras Eltern waren noch nicht angekommen, da sie erst aus dem Süden anreisen
mussten. Aber ihre Freunde trafen nach und nach ein, um zu hören, wie es ihr
ging. Unter ihnen entdeckte Sandra auch Christian Lorieri, den
Kunstgeschichtsdozenten und Vater des Ungeborenen. Sie tauschten einen
flüchtigen Blick, der mehr sagte als tausend Worte. Wenn er hier war, hatte ihr
Gespräch an der Universität tatsächlich etwas gebracht.
Bis jetzt war nur der Krankenbericht nach außen gedrungen, der
besagte, dass es der Studentin den Umständen entsprechend gut ging. Obwohl das
Ungeborene großem Stress ausgesetzt gewesen war, war es ebenfalls wohlauf.
De Michelis ging, in einen Plastikbecher pustend, auf Sandra zu.
»Findest du nicht, dass du mir allmählich eine Erklärung schuldig bist?«
»Allerdings, aber ich warne dich: Ein Kaffee wird dafür nicht
ausreichen.«
»Vor morgen früh kommen wir hier sowieso nicht weg: Wahrscheinlich
werden wir die Nacht hier verbringen müssen.«
Sandra nahm seine Hand. »Ich würde gern mit einem Freund reden und
den Polizisten außen vor lassen. Geht das?«
»Wieso? Hast du auf einmal was gegen Bullen?«, witzelte er. Aber als
er sah, dass Sandra es ernst meinte, schlug er einen anderen Ton an. »Ich war
dir nach Davids Tod keine große Hilfe. Das Mindeste, was ich jetzt tun kann,
ist, dir zuzuhören.«
In den nächsten zwei Stunden erzählte Sandra dem Polizisten, der
eine moralische Instanz für sie war, alles. De Michelis ließ sie reden und
unterbrach sie nur, um an einigen Stellen nachzuhaken. Anschließend fühlte sich
Sandra unglaublich erleichtert.
»Pönitenziare, sagst du?«
»Ja«, bestätigte sie. »Hast du etwa noch nie etwas von ihnen
gehört?«
De Michelis zuckte mit den Schultern. »Ich habe in meinem Beruf
schon so einiges erlebt, so schnell wundert mich nichts mehr. Manchmal konnten
Fälle ganz plötzlich aufgrund eines Tipps gelöst werden. Oder mithilfe
glücklicher Umstände, die sich niemand erklären konnte. Aber ich habe das nie
mit einer Organisation in Verbindung gebracht, die parallel zur Polizei
ermittelt. Wie du weißt, bin ich gläubig. Mir gefällt die Vorstellung, dass es
etwas Unerklärliches, aber auch Wunderbares gibt, dem ich mich anvertrauen
kann, wenn ich die Scheußlichkeiten, mit denen ich Tag für Tag konfrontiert
werde, nicht mehr aushalte.«
De Michelis strich ihr über die Wange – genau wie Marcus, bevor er
aus dem Reanimationsraum und aus ihrem Leben verschwunden war.
Hinter dem Ispettore nahm Sandra zwei Männer in Anzug und Krawatte
wahr. Sie sprachen gerade mit einem Polizisten, der in ihre Richtung zeigte.
Die beiden kamen näher.
»Sind Sie Sandra Vega?«, fragte der eine.
»Jawohl«, bestätigte sie.
»Könnten wir kurz mit Ihnen reden?«, fragte der andere.
»Aber natürlich.«
Sie gaben ihr zu verstehen, dass es sich um eine Privatangelegenheit
handele, und als sie sich ein wenig abgesondert hatten, zückten sie ihre
Dienstausweise. »Wir kommen von Interpol.«
»Worum geht es denn?«
Der Ältere der beiden ergriff zuerst das Wort. »Heute Nachmittag hat
uns Commissario Camusso angerufen und sich in Ihrem Namen nach einem unserer
Beamten erkundigt. Er heißt Thomas Schalber. Können Sie uns bestätigen, dass
Sie ihn kennen?«
»Ja.«
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
»Gestern.«
Die beiden sahen sich an. Dann fragte der Jüngere: »Wissen Sie das
genau?«
Sandra verlor allmählich die Geduld. »Natürlich weiß ich das genau!«
»Ist das der Mann, den Sie kennengelernt haben?«
Sie zeigten ihr einen Ausweis mit Foto, und Sandra beugte sich vor,
um ihn genauer anzusehen. »Er sieht ihm erstaunlich ähnlich, aber er ist es
nicht.«
Die beiden sahen sich erneut an, diesmal deutlich besorgter.
»Könnten Sie die Person, die Sie gesehen haben, einem unserer Phantomzeichner
beschreiben?«
Sandra hatte die Nase voll. Sie wollte endlich wissen, was hier los
war. »Gut, Jungs: Wer von euch beiden erklärt mir, was hier vor sich geht?«
Der Jüngere sah seinen älteren Kollegen um Erlaubnis bittend an. Als
dieser nickte, rückte er mit der Sprache heraus: »Als Thomas Schalber zuletzt
mit uns in
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