Der Seelensammler
der großen Krankenhäuser gab. So hatte er auch von
diesem Leichenfund erfahren. Eine Stunde später hatte er einen Kittel geklaut
und sich in den Kühlraum des Hôpital St. Antoine geschmuggelt. Mit einem
Stempelkissen hatte er die Fingerabdrücke der Leiche genommen. Zurück im Hotel,
hatte er sie eingescannt und in ein gehacktes Programm eingespeist, mit dem er
die Regierungsdatenbank durchsuchte. Der Jäger wusste, dass jede Information,
die ins Internet gestellt wurde, nicht mehr gelöscht werden konnte. Das
Internet funktionierte wie das menschliche Gedächtnis: Schon winzigste Details
konnten jene Reizleitung aktivieren, die längst vergessen Geglaubtes wieder
zutage förderte.
Das Netz vergaß nichts.
Der Jäger hatte im Dunkeln auf das Ergebnis gewartet und sich noch
einmal vor Augen geführt, wie er an diesen Punkt gelangt war. Seit der ersten
entstellten Leiche in Memphis waren sieben Jahre vergangen. Dann kamen Buenos
Aires, Toronto, Panama und schließlich Europa: Turin, Wien, Budapest und jetzt
Paris.
Und das waren nur die Fälle, die er hatte recherchieren können.
Unter Umständen gab es noch viele mehr, nur, dass sie nie entdeckt werden
würden. Die Morde hatten sich an weit voneinander entfernten Orten zugetragen
und in großem zeitlichem Abstand zueinander. Daher kam es, dass sie außer ihm
noch niemand mit einem einzigen Täter in Verbindung gebracht hatte.
Seine Beute war selbst ein Jäger.
Anfangs hatte der Jäger noch geglaubt, es handelte sich um einen so
genannten »Pilger« – um einen Serienmörder, der viel auf Reisen ist, um seine
Verbrechen zu vertuschen. In dem Fall hätte er nur herausfinden müssen, wo sich
sein Hauptquartier befand. Mit Sicherheit war es jemand aus der westlichen
Welt, der in einer Großstadt lebte. Pilger waren sozial bestens integriert. Sie
hatten Familie, Kinder und genug Geld, um sich die häufigen Ortswechsel leisten
zu können. Sie waren intelligent und verschleierten ihre Machenschaften durch
Geschäftsreisen.
Doch dann war ihm an der Verbrechensserie etwas aufgefallen, das er
zuerst übersehen hatte. Und das rückte alles in ein ganz anderes Licht.
Die Opfer wurden immer älter.
Daran hatte er gemerkt, dass die Verbrecherlogik, mit der er es zu
tun hatte, viel komplexer und haarsträubender war als zunächst gedacht.
Der Mörder tötete nicht, um anschließend weiterzuziehen. Er tötete,
um zu bleiben.
Und deshalb konnte er in Paris Glück haben oder zum wiederholten Mal
scheitern. Nach einigen Stunden erhielt er seine Antwort aus den
Regierungsarchiven.
Die Leiche ohne Gesicht, die man in der Banlieue gefunden hatte, war
vorbestraft.
Es handelte sich nicht um einen Drogenhändler, sondern um einen ganz
normalen Mann, der als Jugendlicher eine Straftat begangen hatte: Mit sechzehn
hatte er ein Bugatti-Modellauto aus einem Laden für Sammler gestohlen. Damals
hatte die Polizei auch von Minderjährigen Fingerabdrücke genommen. Allerdings
war die Anzeige zurückgezogen und der Fall geschlossen worden. Obwohl nichts
davon im Führungszeugnis des Opfers auftauchte, war seine Polizeiakte bei einer
Regierungsorganisation gelandet, die Jugendstraftaten statistisch auswertete.
Diesmal hatte seine Beute einen Fehler begangen: Die Leiche ohne
Gesicht hatte jetzt einen Namen.
Jean Duez.
Danach war es ein Leichtes gewesen, den Rest auch noch herauszufinden:
dreiunddreißig Jahre alt, Junggeselle, beide Eltern waren bei einem Autounfall
umgekommen. Bis auf eine alte, an Alzheimer erkrankte Tante in Avignon gab es
keine näheren Verwandten. Duez hatte einen kleinen Onlineshop gegründet, den er
von zu Hause aus betrieb: Seine Einkünfte bezog er aus Modellautoverkäufen an
Sammler. Er hatte kaum Sozialkontakte, und das Wichtigste war, dass es
niemanden gab, der ihn vermissen könnte.
Dem Jäger fiel auf, dass dieses Profil genau dem der vorherigen
Opfer entsprach: ein unscheinbares Äußeres, keinerlei besondere Merkmale. Ein
Beruf, der weder eine besondere Ausbildung noch besonderes Geschick erforderte.
Ein äußerst zurückgezogenes Leben, keine Bekannten, nur wenige Sozialkontakte.
Jemand, den man fast als Menschenfeind oder Sozialphobiker bezeichnen konnte.
Keine näheren Angehörigen, keine Familie.
Der Jäger genoss die Intelligenz seiner Beute. Das mochte
leichtsinnig sein, doch er liebte Herausforderungen.
Er sah auf die Uhr: Es war fast sieben. Allmählich füllte sich das
Bistro mit Gästen, die für ein frühes Abendessen reserviert hatten.
Weitere Kostenlose Bücher