Der Seelensammler
er nicht mehr an das zurückdenken, was Devok zugestoßen war.
Dann musste er ganz von vorn anfangen und erst einmal zu sich selbst finden.
Und das ging nur, wenn er Lara fand.
Berstendes Glas . Er merkte sich diese
Information und musste wieder an Clementes Worte denken: »Von nun an bist du
ganz auf dich allein gestellt.« Manchmal hatte er sogar schon daran gezweifelt,
dass es außer ihnen noch andere gab. Als sein einziger Ansprechpartner ihn in
diesem Krankenhausbett halb tot und ohne Gedächtnis gefunden und ihm gesagt
hatte, wer er war, hatte er ihm erst nicht geglaubt. Er hatte einen Moment gebraucht,
um sich an diese Vorstellung zu gewöhnen.
»Hunde sind farbenblind«, murmelte er wieder vor sich hin, um sich
davon zu überzeugen, dass das die Wahrheit war. Dann griff er zu Jeremiah
Smiths Akte – c.g. 97-95-6 – , setzte sich aufs Bett und fing an zu lesen. Immer auf der Suche nach einer
Spur, die ihn zu der verschwundenen Studentin führen konnte.
Er begann mit dem Mörder und seiner kurzen Biografie. Jeremiah war
fünfzig Jahre alt und Junggeselle. Er stammte aus einer wohlhabenden
gutbürgerlichen Familie. Seine Mutter war Italienerin, der Vater Engländer,
beide waren bereits tot. Seine Eltern hatten in Rom fünf Stoffgeschäfte
besessen, sie aber in den Achtzigerjahren aufgegeben. Jeremiah war Einzelkind
und hatte sonst keine weiteren Verwandten. Da er Einnahmen aus Vermögenszinsen
hatte, hatte er nie gearbeitet. An dieser Stelle brach die Biografie ab, und es
folgte ein riesiges schwarzes Loch in seiner Lebensgeschichte. Die letzten
beiden Zeilen des Täterprofils beinhalteten nur, dass er völlig isoliert in
einer Villa in den römischen Hügeln lebte.
Marcus fiel auf, dass es in Jeremiahs Leben keine besonderen
Vorkommnisse gegeben hatte. Und trotzdem gab es gute Gründe dafür, warum er zu
dem wurde, was er war: Einsamkeit, emotionale Unreife, die Unfähigkeit, Beziehungen
einzugehen, gepaart mit der Sehnsucht nach einer Partnerin.
Du wusstest, dass du eine Frau nur dadurch auf dich aufmerksam
machen kannst, indem du sie entführst und fesselst, stimmt’s? Natürlich stimmte
das. Was wolltest du damit erreichen? Welches Ziel hast du verfolgt? Du hast
sie dir nicht geholt, um Sex mit ihnen zu haben. Du hast sie weder vergewaltigt
noch gefoltert.
Du wolltest eine Familie haben.
Ein Zusammenleben erzwingen. Du hast alles dafür getan, damit es
funktioniert. Du hast versucht, die jungen Frauen zu lieben wie ein guter
Ehemann. Aber sie waren viel zu verängstigt, um deine Gefühle zu erwidern. Du
hast jedes Mal versucht, mit ihnen zusammen zu sein, aber nach einem Monat hast
du gemerkt, dass es nicht klappt. Dass das kranke, gestörte Gefühle sind, die
nur in deinem Kopf existieren. Und dann konntest du es, ehrlich gesagt, kaum
erwarten, den Frauen ein Messer an die Kehle zu halten. Am Ende hast du sie umgebracht.
Trotzdem hast du im Grunde nur nach etwas gesucht … nach Liebe.
So schlüssig diese Erklärung auch war – jeder normale Mensch hätte
sie unerträglich gefunden. Doch Marcus war nicht nur rein intuitiv darauf
gekommen, sondern konnte sie auch akzeptieren. Er fragte sich, warum, fand aber
keine Antwort darauf. Gehörte das auch zu seiner Begabung? Manchmal machte sie
ihm fast schon Angst.
Er begann, Jeremiahs Vorgehensweise zu analysieren. Sechs Jahre lang
hatte er ungestört sein Unwesen treiben und vier Opfer töten können. Darauf
folgte jedes Mal eine Phase der Ruhe und Zufriedenheit, in der sich der Mörder
mit der Erinnerung an die Tat begnügte. Sein Trieb, erneut zuzuschlagen, war
gedämpft. Doch sobald die Wirkung nachließ, brütete er neue Phantasien aus, die
eine weitere Entführung nach sich zogen. Das war kein esoterischer Quatsch,
sondern ein rein körperlicher Prozess.
Jeremiahs Opfer waren Frauen zwischen siebzehn und achtundzwanzig.
Er hielt tagsüber nach ihnen Ausschau. Er sprach sie unter irgendeinem Vorwand
an und lud sie auf ein Getränk ein, mit dem er ihnen ein Betäubungsmittel verabreichte – die Vergewaltigungsdroge GHB. Waren sie erst einmal benebelt, konnte er sie
leicht dazu bewegen mitzugehen.
Aber warum ließen sich die Mädchen von ihm auf ein Getränk einladen?
Sie vertrauten ihm.
Vielleicht stellte er ihnen Geld oder etwas ähnlich Attraktives in
Aussicht. Eine Ködermethode, die bei Geisteskranken und ähnlich gelagerten
Menschen sehr beliebt ist, besteht darin, den Opfern einen Job oder leicht
verdientes Geld zu versprechen. Die
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