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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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rekonstruieren.
    Noch während ihm diese Erkenntnis kam, griff Marcus zum Regenmantel
und verließ den Dachboden. Er musste in das Haus in der Via dei Coronari
zurückkehren.

EIN JAHR ZUVOR
PARIS
    Der Jäger wusste, wie wertvoll Zeit sein kann. Seine
größte Stärke war die Geduld. Er konnte sie den Gegebenheiten anpassen und sich
währenddessen auf den Moment seines Triumphes vorbereiten, den Sieg bereits
vorwegnehmen.
    Ein kurzer Windstoß ließ die Tischdecke aufflattern und brachte die
Gläser am Nebentisch zum Klirren. Der Jäger setzte seinen Pastis an die Lippen
und genoss die späte Nachmittagssonne. Dabei behielt er die Autos im Auge, die
an dem Bistro vorbeifuhren. Die ihren Besorgungen nachgehenden Passanten
achteten nicht auf ihn.
    Er trug einen blauen Anzug, ein hellblaues Hemd und eine gelockerte
Krawatte. Damit sah er aus wie ein Angestellter, der kurz nach Büroschluss noch
einen Drink nahm. Da er wusste, dass Einzelgänger stärker auffielen, hatte er
eine Tüte mit Einkäufen auf den Stuhl neben sich gelegt. Daraus schauten ein
Baguette, ein Bund Petersilie und eine Packung bunter Bonbons hervor, ganz so,
als hätte er eine Familie. Außerdem trug er einen Ehering.
    Dabei hatte er niemanden.
    Mit der Zeit hatte er seine Bedürfnisse immer weiter heruntergeschraubt.
Er führte ein genügsames Leben und betrachtete sich gern als Asket. Er hatte
alle Ambitionen aufgegeben, die ihm nicht dabei halfen, sein einziges Ziel zu
erreichen. Er wollte sich nicht davon ablenken lassen. Er wollte nur das eine.
    Seine Beute.
    Nachdem er sie aus den Augen verloren hatte, erfuhr er, dass sie
sich angeblich in dieser Stadt aufhielt. Prompt war er hierhingezogen, ohne
sich diese Information bestätigen zu lassen. Er musste sein neues Revier
kennenlernen. Er musste sehen, was seine Beute sah, durch dieselben Straßen
flanieren, das Gefühl haben, ihr jederzeit über den Weg laufen zu können, auch
ohne sie zu erkennen. Er musste wissen, dass sie sich unter demselben Himmel
befanden. Das gab ihm Kraft und die Gewissheit, dass er sie früher oder später
aufstöbern würde.
    Um nicht weiter aufzufallen, hatte er alle drei Wochen den Wohnsitz
gewechselt, wobei er stets in kleinen Hotels oder Mietzimmern abstieg, und so
immer größere Bereiche der Stadt abgedeckt. Er hatte ein paar Köder ausgelegt,
mehr aber nicht. Er verließ sich darauf, dass sich seine Beute ganz von allein
zeigen würde.
    Und dann hatte er gewartet.
    Seit Neuestem wohnte er im Hotel des Saints-Pères im sechsten
Arrondissement. In seinem Zimmer stapelten sich die Zeitungen, die er über
einen langen Zeitraum hinweg gesammelt hatte. Er hatte sie alle nach einer Spur
durchforstet, die eine Schneise in die Mauer der Dunkelheit und des Schweigens
schlagen konnte. Und sei sie auch noch so klein.
    Inzwischen war er schon fast neun Monate hier, ohne irgendwelche
Fortschritte verzeichnen zu können. Seine Gewissheit war erschüttert. Doch dann
war auf einmal genau das eingetreten, worauf er gewartet hatte: ein Zeichen,
eines, das nur er entziffern konnte. Er hatte sich beherrscht, sich an die
Regeln gehalten, die er sich auferlegt hatte. Und gleich sollte er dafür
belohnt werden.
    Vierundzwanzig Stunden zuvor hatten Arbeiter in Paris-Bagnolet bei
Bauarbeiten in der Rue Malmaison eine Leiche gefunden.
    Die Leiche eines etwa dreißigjährigen, unbekleideten Mannes. Der
Zeitpunkt seines Todes lag ungefähr ein Jahr zurück. Die Gendarmerie wartete
erst einmal die Autopsieergebnisse ab. Weil schon so viel Zeit vergangen war, betrachtete
sie die Sache als unlösbaren Fall. Sollte es irgendwelche Beweise gegeben
haben, waren diese längst verschwunden oder verunreinigt.
    Da die Leiche in der Banlieue aufgefunden worden war, ging man von
einem Mord im Drogenmilieu aus. Um kein Aufsehen zu erregen, hatte sich jemand
die Mühe gemacht, die Leiche verschwinden zu lassen.
    Aller Erfahrung nach hatte sich die Sache genau so abgespielt. Nicht
einmal das makabre Detail, das die Polizei eigentlich hätte alarmieren müssen,
machte sie misstrauisch.
    Der tot aufgefundene Mann hatte kein Gesicht.
    Dabei handelte es sich allerdings nicht nur um einen Akt der
Grausamkeit und auch nicht um Rache: Sämtliche Gesichtsmuskeln und -knochen der
Leiche waren zerstört worden. Wer sich so viel Mühe machte, musste ein Motiv
haben.
    Und nach genau solchen Details hielt der Jäger Ausschau.
    Seit dem Tag seiner Ankunft achtete er darauf, ob es Neuzugänge in
den Leichenschauhäusern

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