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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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Teilnahme an einem Schönheitswettbewerb
oder an einem Film- oder Fernsehcasting. Aber eine solche Strategie erfordert
ein hohes Maß an sozialer Kompetenz. Das stand jedoch in einem krassen
Widerspruch zu Jeremiah, dem asozialen Einsiedler.
    Wie hat er sie getäuscht?
    Und warum hatte niemand mitbekommen, wie er sich ihnen genähert hat?
Vor Lara hatten bereits vier Entführungen stattgefunden, alle an öffentlichen
Orten, ohne dass es einen einzigen Zeugen gegeben hatte. Dabei war Jeremiahs
»Werben« zeitaufwendig. Aber vielleicht enthielt die Frage die Antwort bereits:
Vielleicht war Jeremiah Smith in den Augen der anderen dermaßen unbedeutend,
dass er wie unsichtbar war.
    Du konntest dich ungestört unter ihnen bewegen. Und du hast dich
unbesiegbar gefühlt, weil niemand dich sehen konnte.
    Marcus dachte wieder an die auf Jeremiahs Brust tätowierten Worte: Töte mich. »So als wollte er uns sagen, dass man sich gar
nicht groß anstrengen muss, um hinter die Fassade zu schauen«, hatte er zu
Clemente gesagt, um dann fortzufahren: »Ist die Wahrheit jedoch in seine Haut geschrieben,
ist sie theoretisch für jedermann sichtbar – zwar unter der Kleidung verborgen,
aber doch ganz nah.«
    Du warst die Kakerlake, die während eines Fests über den Boden
läuft: Keiner bemerkt sie, keiner interessiert sich für sie. Sie muss nur
aufpassen, dass sie nicht zertreten wird, und darin warst du gut. Aber bei Lara
hast du deine Vorgehensweise geändert. Du hast sie aus ihrem Zuhause entführt,
aus ihrem Bett.
    Schon beim Gedanken an den Namen der Studentin, wurde Marcus von
einer Reihe quälender Fragen bedrängt. Wo war sie jetzt? Und lebte sie
überhaupt noch? Wenn ja, was machte sie dann gerade durch? Gab es etwas zu
essen oder zu trinken in ihrem Gefängnis? War sie bei Bewusstsein, oder stand
sie unter Drogen? War sie verletzt? Hatte ihr Folterknecht sie gefesselt?
    Marcus verbat sich jedes Gefühl, er durfte sich nicht davon ablenken
lassen. Er musste einen klaren Kopf behalten, auf Distanz bleiben. Bestimmt gab
es einen Grund, warum Jeremiah seine Vorgehensweise bei Lara so radikal
geändert hatte. Clemente hatte die These geäußert, dass manche Serienmörder
versuchen, ihre Strategie immer mehr zu perfektionieren, indem sie Details
hinzufügen, die ihre Lust steigern. So gesehen konnte die Entführung der
Studentin auch nur die Variante ein und desselben Themas sein. Doch Marcus
glaubte nicht so recht daran: Dafür war der Wechsel viel zu radikal und plötzlich.
    Vielleicht war Jeremiah die ewigen Täuschungsmanöver einfach leid
geworden, die er brauchte, um sein Ziel zu erreichen. Vielleicht ahnte er auch,
dass seine Ködermethode nicht mehr lange funktionieren würde: Was, wenn jemand
von den anderen Opfern wusste und ihn auffliegen ließ? So allmählich wurde er
berühmt, und damit stieg das Risiko schlagartig.
    Nein, das war nicht der Grund, warum du deine Strategie geändert
hast. Was hat Lara, was die anderen nicht hatten?
    Dass die vier Mädchen vor ihr keinerlei Gemeinsamkeiten hatten,
machte die Sache noch komplizierter: Sie waren unterschiedlich alt und sahen
unterschiedlich aus. Jeremiah hatte keinen bestimmten Frauengeschmack. Dazu
fiel Marcus nur das Wort »Zufall« ein. Jeremiah hatte sich bei seiner Auswahl
auf den Zufall verlassen, denn sonst wären irgendwelche Gemeinsamkeiten
festzustellen. Je länger Marcus die Fotos der ermordeten Frauen betrachtete,
desto überzeugter war er davon, dass der Mörder sie deshalb ausgewählt hatte,
weil sie wehrlos und eine leichte Beute gewesen waren. Deshalb hatte er sie
tagsüber an öffentlichen Orten entführt. Er kannte sie nicht schon vorher.
    Lara dagegen war etwas Besonderes .
Jeremiah durfte sie auf keinen Fall verlieren. Deshalb hatte er sie aus ihrem
Zuhause entführt, und deshalb hatte er auch nachts zugeschlagen.
    Marcus legte die Akte kurz beiseite, stand vom Bett auf und trat ans
Fenster. Es dämmerte, und das Dächergewirr Roms verwandelte sich in ein
aufgewühltes Schattenmeer. Diese Tageszeit war ihm am liebsten. Dann überkam ihn
stets eine seltsame Ruhe, und er hatte das Gefühl, Frieden gefunden zu haben.
Dank dieser Ruhe begriff Marcus, was sein Fehler gewesen war: Er hatte Laras
Wohnung bei Tageslicht gesehen, dabei musste er sie sich bei Dunkelheit
anschauen, denn dann hatte auch der Mörder zugeschlagen.
    Wenn er Jeremiahs Gedankengänge nachvollziehen wollte, musste er die
Umstände, unter denen er gehandelt hatte, genauestens

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