Der Seelensammler
siebzehnten Jahrhundert. Offensichtlich nur einen
Ausschnitt: ein Kind mit gedrehtem Oberkörper, kurz davor, die Flucht zu
ergreifen. Doch sein Blick war rückwärtsgewandt, weil es sich von etwas ebenso
Furchtbarem wie Faszinierendem nicht losreißen konnte. Es wirkte erschüttert,
erstaunt und hatte in seiner Verblüffung den Mund aufgerissen.
Sandra kam das Motiv bekannt vor, wusste aber nicht, woher. Ihr fiel
De Michelis’ Kunstinteresse ein. Sie würde sich bei ihm danach erkundigen.
Eines wusste sie jedoch genau: Dieses Gemälde befand sich in Rom,
und genau dort musste sie jetzt hin.
Ihre Schicht begann um vierzehn Uhr, doch sie beschloss, sich ein
paar Tage freizunehmen. Schließlich hatte sie nach Davids Tod keinerlei
Sonderurlaub genommen. Sie konnte den Schnellzug nehmen, dann wäre sie in nicht
einmal drei Stunden dort. Sie wollte es mit eigenen Augen sehen, wie David
immer so schön sagte. Sie wollte verstehen, denn inzwischen war sie fest davon
überzeugt, dass es eine Erklärung gab.
Während sie das letzte Foto belichtete, plante sie bereits in
Gedanken die Reise. Die ersten vier Fotos hatten neue Fragen aufgeworfen, auf
dem fünften war vielleicht eine Antwort zu finden.
Sie behandelte das Bild besonders behutsam, während es auf dem
Papier Gestalt annahm: ein dunkler Fleck vor hellem Hintergrund, der feste
Konturen bekam und immer detaillierter wurde. Wie ein uraltes Relikt, das
langsam aus der Tiefe auftaucht, nachdem es zig Jahre in absoluter Dunkelheit
verbracht hat.
Es war ein Gesicht.
Der Schnappschuss eines Profils. Der Betreffende hatte nicht
gemerkt, dass er fotografiert worden war. Hatte dieser Mensch etwas mit Davids
Recherchen in Rom, ja, vielleicht sogar mit seinem Tod zu tun? Sandra begriff,
dass sie diese Person finden musste.
Schwarzes Haar, so schwarz wie seine Kleider, dazu ein scheuer,
melancholischer Blick.
Und eine Narbe an der Schläfe.
9 Uhr 56
Von der Terrasse der Engelsburg aus gönnte sich Marcus
einen Blick auf das prächtige Rom. Hinter ihm ragte der Erzengel Michael empor,
der mit ausgebreiteten Flügeln und gezücktem Schwert über die Menschen und ihr
niemals endendes Leid wachte. Links von der Bronzestatue befand sich die Armsünderglocke,
die in den finsteren Zeiten, in denen die Päpste die Engelsburg als Gefängnis
genutzt hatten, bei Hinrichtungen erklungen war.
Heute war dieser Ort der Folter und der Verzweiflung ein beliebtes
Ziel für Touristen. Sie nutzten die Sonne, die gerade zwischen den Wolken
hervorgekommen war und die regennasse Stadt aufglänzen ließ, für
Erinnerungsfotos.
Clemente gesellte sich zu Marcus, ohne den Blick von der herrlichen
Aussicht zu lösen.
»Was ist passiert?«
Sie benutzten eine Mailbox, um sich zu verabreden. Wollte einer den
anderen sehen, hinterließ er ihm einfach eine Nachricht mit Orts- und
Zeitangabe. Bisher war es noch nie vorgekommen, dass einer von beiden nicht
aufgetaucht war.
»Es geht um den Mord an Valeria Altieri.«
Noch bevor Clemente darauf antwortete, musterte er Marcus’
geschwollenes Gesicht.
»Wer hat dich denn so zugerichtet?«
»Ich habe gestern Nacht Bekanntschaft mit ihrem Sohn Raffaele
gemacht.«
Clemente schüttelte nur den Kopf.
»Eine scheußliche Geschichte. Das Verbrechen wurde nie aufgeklärt.«
Er schien den Fall gut zu kennen, was Marcus wunderte. Schließlich
war sein Freund zur Tatzeit kaum älter als zehn gewesen. Deshalb gab es dafür
nur eine Erklärung: Er und seine Leute hatten sich bereits damit beschäftigt.
»Gibt es dazu Unterlagen in unserem Archiv?«
Clemente sprach nur ungern in der Öffentlichkeit über diese Dinge.
»Du solltest vorsichtiger sein!«, rügte er Marcus.
»Es ist aber wichtig. Was weißt du darüber?«
»Zwei Spuren wurde nachgegangen. Beide hatten mit Guido Altieri zu
tun. Wird eine Ehebrecherin ermordet, ist der Hauptverdächtige in der Regel der
Ehemann. Und Altieri hatte sowohl die nötigen Kontakte als auch die
finanziellen Mittel, um den Mord in Auftrag zu geben und ungeschoren davonzukommen.«
Wenn Guido Altieri tatsächlich der Schuldige war, bedeutete das,
dass er seinen Sohn ganz bewusst zwei Tage mit den Leichen allein gelassen
hatte, nur um sich ein überzeugendes Alibi zu verschaffen. Das konnte sich
Marcus kaum vorstellen.
»Und die zweite Spur?«
»Altieri ist ein gerissener Geschäftsmann. Er war damals in London,
um eine wichtige Firmenfusion zu begleiten. Eine nicht ganz saubere Sache: Es
ging um Öl und
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