Der Seelensammler
und hatte sie ermordet?
Nein, das ergab keinen Sinn.
Ranieri war erst wenige Stunden zuvor hier gewesen. Wenn diese
Männer schon seit einer Woche tot waren, was hatte er dann an diesem Tag hier
zu suchen gehabt? Hatte er sie sich einfach noch einmal ansehen wollen? Aber
wieso hätte er dieses Risiko eingehen sollen? Und was hatte ihm derartig Angst
eingejagt?
Nein, Ranieri ist nicht der Mörder, dachte Marcus. Und dass er die
Leichen nicht verschwinden ließ, bedeutet, dass sie gefunden werden sollten.
Die beiden hatten bei dem Mord damals sicher nur eine untergeordnete
Rolle gespielt. Marcus war davon überzeugt, dass hinter dem Altieri-Verbrechen
ein Auftraggeber steckte, vielleicht sogar mehrere. Letzteres gefiel ihm gar
nicht. Doch wegen des im Schlafzimmer vollzogenen Rituals drängte sich die
These von einer Sekte regelrecht auf: eine okkulte Gruppierung, die in der Lage
war, jede Spur, die sie mit den Morden in Verbindung brachte, zu beseitigen.
Auch wenn sie dafür zwei ihrer Mitglieder töten musste.
Marcus vermutete, dass hier zwei widerstreitende Kräfte am Werk
waren: eine, die das Geheimnis lüften wollte, indem sie die anonymen Briefe
verschickte. Und eine, die ihre Anonymität und ihre Interessen unbedingt
bewahren wollte.
Und das Bindeglied war Ranieri.
Der Privatdetektiv wusste etwas, davon war Marcus überzeugt. Genauso
wie er davon überzeugt war, dass es bei alldem irgendeine Verbindung zu
Jeremiah Smith und Laras Verschwinden gab.
Seltsame finstere Mächte waren hier am Werk. In diesem Moment fühlte
sich Marcus wie eine unbedeutende Randfigur in einem Spiel, das er nicht
durchschaute. Er musste herausfinden, was seine Rolle darin war, und deshalb
musste er Ranieri mit seinen Vermutungen konfrontieren.
Marcus hatte genug Leichengestank gerochen. Bevor er ging, wollte er
sich instinktiv bekreuzigen, konnte sich jedoch gerade noch rechtzeitig
beherrschen. Denn die beiden Toten hier hatten es aller Wahrscheinlichkeit nach
nicht verdient.
Ranieri war durch einen anonymen Hinweis einbestellt worden.
Er war morgens mit dem Auto zu dem Gebäude gefahren und hatte die Leichen
gesehen. Dann war er in sein Büro zurückgekehrt und hatte den Hinweis
vernichtet. Anschließend war er davongeeilt, hatte jedoch etwas aus seinem Safe
mitgenommen.
Marcus dachte immer wieder darüber nach, spürte aber, dass ihm ein
wichtiges Mosaiksteinchen fehlte.
Inzwischen hatte es wieder angefangen zu regnen. Er verließ die
einsame Fabrik und umrundete die Schlammwüste, wobei er darauf achtete, sich
die Schuhe nicht schmutzig zu machen. Dabei fiel ihm ein Detail auf, das ihm
vorher entgangen war.
Auf dem Boden war ein dunkler Fleck zu sehen und ein Stück weiter
noch einer. Beide ähnelten dem, den er am Vormittag auf dem Asphalt vor Ranieris
Büro entdeckt hatte – dort, wo der grüne Subaru gestanden hatte.
Die Tatsache, dass der Regen die Flecken nicht fortgewaschen hatte,
bestätigte seine Annahme, dass es sich um eine ölige Substanz handeln musste.
Marcus beugte sich vor und stellte fest, dass es sich um Schmieröl handelte.
Ranieris Wagen hatte also tatächlich vor der verlassenen Fabrik
gestanden, wie er bereits aus der schlammbespritzten Karosserie geschlossen
hatte. Vielleicht hatte Ranieri seinen Wagen hier beschädigt? Aber nirgendwo
waren Löcher oder Steine zu entdecken, die einen solchen Schaden hätten verursachen
können. Er musste also schon vorhanden gewesen sein.
Wo aber war Ranieri gewesen, bevor er hierherkam?
Marcus fasste sich an die Narbe. Sein Kopf dröhnte, eine neue
Migräne kündigte sich an. Er brauchte dringend ein Schmerzmittel und etwas zu
essen. Außerdem hatte er das Gefühl, in einer Sackgasse gelandet zu sein. Als
er den Bus kommen sah, rannte er, um ihn noch zu erwischen. Er stieg ein und
setzte sich in eine der letzten Reihen neben eine alte Frau mit Einkaufstüten.
Sie starrte auf seinen geschwollenen Wangenknochen und die geplatzte Lippe, die
er Raffaele Altieri zu verdanken hatte. Marcus ignorierte sie, verschränkte die
Arme vor der Brust und streckte die Beine aus. Er schloss die Augen und
versuchte, das Hämmern in seinem Kopf zu verdrängen. Kurz döste er ein. Die
Stimmen und anderen Geräusche um ihn herum sorgten dafür, dass er nicht richtig
einschlief und vor allem nicht träumte. Wie oft hatte er schon in einem Bus oder
U-Bahn-Waggon gesessen und gedöst? Wie oft war er ziellos von Endstation zu Endstation
gefahren, um sich auszuruhen und dem immer
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