Der Seelensammler
auf
jemanden, der sich verspätet hatte. Eine halbe Stunde behielt er das Gebäude im
Auge, danach war er sich sicher, dass der Ort nicht überwacht wurde.
Vor der Fabrik befand sich Brachland. Der Regen hatte es in eine
Schlammwüste verwandelt. Man konnte noch Reifenspuren erkennen. Wahrscheinlich
stammten sie von Ranieris grünem Subaru, dachte Marcus, dem wieder einfiel, wie
verdreckt dieser gewesen war.
Der Privatdetektiv war hier gewesen. Dann war er zurück ins Büro
geeilt, um das Blatt Papier zu vernichten. Und schließlich war er wieder
gegangen, wobei er etwas aus dem Safe mitgenommen hatte.
Marcus versuchte, sich aus den einzelnen Mosaiksteinchen ein Bild zu
machen. Aber das einzig Auffällige daran war Ranieris Eile.
Nur ein Mann, der etwas zu befürchten hat, verhält sich so, dachte
Marcus. Was hatte Ranieri dermaßen Angst eingejagt?
Marcus nahm nicht den Haupteingang der Fabrik, sondern suchte nach
einem Seiteneingang. Er bahnte sich einen Weg durch das Gestrüpp, das die
niedrige Halle mit rechteckigem Grundriss umgab. Mit ihrem gewölbten Blechdach
erinnerte sie an einen Hangar. Er entdeckte eine Brandschutztür. Vielleicht
hatte Ranieri sie ebenfalls benutzt, denn sie war nur angelehnt. Mit beiden
Händen zog Marcus sie gerade so weit auf, dass er hindurchschlüpfen konnte.
Staubiges Licht fiel in einen riesigen Raum, der bis auf ein paar
aufeinandergestapelte Maschinen und von der Decke hängende Rollenzüge so gut
wie leer war. Regen war durchs Dach gekommen und bildete dunkle Pfützen auf dem
Boden.
Marcus sah sich um, wobei seine Schritte laut von den Wänden
widerhallten. Am Ende des Raumes führte eine Eisentreppe zu einer Galerie mit
einem kleinen Büro. Schon als er darauf zuging, fiel ihm etwas auf: Das
Geländer war staubfrei. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, es abzuwischen, vielleicht
um Fingerabdrücke zu beseitigen.
Welches Geheimnis dieser Ort auch barg – dort oben war es zu finden.
Marcus ging die Treppe hinauf und passte gut auf, wo er hintrat. Auf
halber Treppe schlug ihm ein unverwechselbarer Geruch entgegen. Hatte man ihn
einmal gerochen, vergaß man ihn nie wieder. Marcus wusste nicht, wo und wann er
zum ersten Mal Bekanntschaft mit diesem Gestank gemacht hatte. Aber in
irgendeinem Winkel seines Gedächtnisses war er noch abgespeichert. Das war auch
so ein Scherz, den seine Amnesie sich mit ihm erlaubte. Er hätte sich
schließlich auch an Rosenduft erinnern können, stattdessen war es der Gestank
von Leichen.
Er hielt seinen Regenmantel vor Nase und Mund und nahm die letzten
Stufen. Die Leichen waren schon von der Schwelle aus zu erkennen, sie waren nur
wenige Meter von ihm entfernt. Eine lag auf dem Rücken, die andere kniete auf
allen vieren. Die Schädel beider waren von Kugeln durchlöchert. Die reinste
Hinrichtung!, dachte Marcus.
Was die fortgeschrittene Verwesung nicht geschafft hatte, hatte das
Feuer erledigt: Jemand hatte versucht, die Leichen mit Alkohol oder Benzin zu
verbrennen, aber die Flammen hatten nur die Oberkörper verschlungen und den
Rest intakt gelassen. Wer auch immer dafür verantwortlich war, er hatte es nur
geschafft, sie unkenntlich zu machen. Ein gruseliges Detail sagte Marcus, dass
es sich um Vorbestrafte handelte: Die Leichen hatten keine Hände mehr. Wären
sie nicht aktenkundig gewesen, hätte sich wohl niemand die Mühe gemacht, das
Nehmen von Fingerabdrücken zu verhindern.
Marcus unterdrückte seinen Brechreiz und trat näher. Die Kleidung
der Männer war an den Ärmeln zerfetzt, und die Knochen waren offenbar von einer
Säge durchtrennt worden.
Marcus entblößte einen Fußknöchel, indem er das Hosenbein eines der
Toten hochschob. Dort waren keine Verbrennungen zu sehen. Der bläulichen
Verfärbung der Haut entnahm er, dass die beiden höchstens seit einer Woche tot
waren. Ihre Körper waren aufgedunsen, wirkten aber insgesamt untersetzt.
Vermutlich waren die Männer über fünfzig gewesen.
Marcus wusste nicht, um wen es sich handelte – möglicherweise würde
er ihre Namen nie erfahren. Aber er ahnte, wen er da vor sich hatte: die Mörder
von Valeria Altieri und ihrem Liebhaber.
Jetzt galt es herauszufinden, wer sie ermordet hatte und warum erst
nach so langer Zeit.
So wie Raffaele durch einen anonymen Brief in Laras Wohnung gebeten
worden war, hatte man Ranieri offenbar in diese Fabrik beordert.
War der Privatdetektiv dabei diesen beiden Männern begegnet, die man
mit einer ähnlichen Botschaft hergelockt hatte,
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