Der Seelensammler
Jeremiahs Vater neben der
Tür.
»Die Bilder wurden vertauscht.«
Er nahm auch das Porträt von der Wand und kontrollierte die
Rückseite. Diesmal stand die Nummer »2« darauf. Marcus und Clemente tauschten
einen vielsagenden Blick. Beide dachten sie das Gleiche. Dann trennten sie sich
und nahmen alle Bilder von der Wand, um die Nummer drei zu finden.
»Hier!«, rief Clemente. Es handelte sich um eine bukolische
Landschaft am Ende des Flurs, direkt neben der Treppe, die ins obere Stockwerk
führte. Sie gingen nach oben und fanden auf halber Treppe die Nummer vier.
Jetzt wussten sie, dass sie auf der richtigen Fährte waren.
»Er zeigt uns den Weg …«, sagte Marcus. Doch keiner von beiden
konnte ahnen, wohin er sie führen würde.
Auf dem Treppenabsatz zum zweiten Stockwerk fanden sie das fünfte
Gemälde. Das sechste in einem kleinen Gang, das siebte im Flur, der zum
Schlafzimmer führte. Das achte war winzig: Das Temperagemälde zeigte einen
indischen Tiger, der einem Abenteuerroman Emilio Salgaris entsprungen zu sein
schien. Es hing neben einer kleinen Tür, und zwar in dem Zimmer, das einst
Jeremiahs Kinderzimmer gewesen sein musste. Auf einer Konsole befanden sich ein
Bataillon Bleisoldaten, ein Metallbaukasten, eine Steinschleuder und ein
kleines Schaukelpferd.
Man vergisst oft, dass auch Monster einmal klein waren, dachte
Marcus. Und wie wir Dinge aus der Kindheit aufbewahren. Wer weiß, woher sein
Drang zu töten kam?
Clemente öffnete die kleine Tür. Sie gab den Blick auf eine steile Treppe
frei, die wahrscheinlich auf den Dachboden führte.
»Vielleicht hat die Polizei dort oben noch nicht richtig
nachgesehen.« Sie waren sich beide sicher, dass das Bild Nummer neun das letzte
sein würde. Vorsichtig nahmen sie die unregelmäßigen Stufen. Die Decke war so
niedrig, dass sie die Köpfe einziehen mussten. Am Ende dieses steinernen Aufganges
lag ein großer Raum mit alten Möbeln, Büchern und Überseekoffern. Ein paar
Vögel hatten Nester zwischen den Dachbalken gebaut. Durch die überrschende
Anwesenheit aufgeschreckt, suchten sie nach einem Fluchtweg und fanden ihn in
Gestalt eines offenen Mansardenfensters.
»Wir können nicht mehr lange bleiben, bald wird es hell!«, trieb
Clemente Marcus zur Eile an.
Deshalb suchten sie sofort nach dem Bild.
In einer Ecke lehnten mehrere Leinwände. Clemente ging darauf zu, um
sie zu überprüfen. »Nichts!«, verkündete er kurz darauf und klopfte sich den
Staub aus den Kleidern.
Marcus sah hinter einer Truhe ein goldenes Fries hervorblitzen. Er
ging um sie herum und stand vor einem prunkvollen Goldrahmen, der an der Wand
lehnte. Er musste das Bild gar nicht erst umdrehen, um zu sehen, dass es die
Nummer neun war. Das Motiv war derart ungewöhnlich, dass er wusste: Die
Schatzsuche hatte ein Ende.
Eine Kinderzeichnung.
Sie war mit Buntstiften in ein Heft gezeichnet und dann in diesen
viel zu prunkvollen Rahmen gesteckt worden, um dort besser zur Geltung zu
kommen.
Sie zeigte einen Sommer- oder Frühlingstag: Die Sonne lachte über
einer üppigen Landschaft mit Bäumen, Vögeln, Blumen und einem kleinen Fluss. Im
Zentrum des Bildes standen zwei Kinder, ein Mädchen im rot gepunkteten Kleid
und ein Junge, der etwas in der Hand hielt. Trotz der fröhlichen Farben und des
unschuldigen Motivs hatte Marcus ein mulmiges Gefühl.
Das Bild strahlte etwas Böses aus.
Er trat einen Schritt vor, um es sich näher anzusehen. Erst da
bemerkte er, dass auf dem Kleid des Mädchens keine Punkte, sondern blutende
Wunden dargestellt waren. Und dass der Junge eine Schere in der Hand hatte.
Er las das Datum am unteren Rand. Es lag zwanzig Jahre zurück.
Jeremiah war damals schon zu alt gewesen, um es gemalt zu haben. Es entstammte
den kranken Phantasien eines anderen. Marcus musste an Das
Martyrium des heiligen Matthäus von Caravaggio denken: Was er da vor
sich hatte, war ein Tatort. Doch als das Bild gemalt worden war, hatte der
eigentliche Horror noch gar nicht stattgefunden.
Auch Monster sind einmal Kinder gewesen, sagte sich Marcus erneut.
Der Junge auf dem Bild war inzwischen erwachsen geworden. Und Marcus wusste,
dass er ihn finden musste.
6 Uhr 04
Schon am ersten Tag bei der Spurensicherung bekam man erklärt,
dass nichts an einem Tatort zufällig ist. Das wurde einem dann bei jeder
Gelegenheit wieder eingebläut, damit man es auch ja nie mehr vergaß.
Deshalb glaubte Sandra nicht wirklich an Zufälle. Andererseits
musste sie zugeben, dass sie im normalen
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