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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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ziehen,
ohne zu wissen, dass sie füreinander geschaffen sind?
    Aus diesem Grund fühlte sie sich privilegiert, auch wenn David nun
tot war.
    Und die Begegnung gestern Abend? Was hatte das zu bedeuten?, fragte
sich Sandra. Der Mann mit der Narbe blieb ein Rätsel. Sie hatte geglaubt, einen
Mörder vor sich zu haben, dabei war er ein Geistlicher! Dass er die Wahrheit gesagt
hatte, bezweifelte sie keine Sekunde. Er hätte den Stromausfall nutzen und
sofort verschwinden können. Stattdessen war er geblieben und hatte ihr gesagt,
wer er war. Nach dieser verblüffenden Erkenntnis war sie nicht mehr in der Lage
gewesen, abzudrücken. Ihr war, als hörte sie die mahnende Stimme ihrer Mutter:
»Sandra, Liebes, einen Priester erschießt man nicht. So was tut man einfach
nicht!« Aber das war doch lächerlich!
    Zufälle.
    Doch wie sollte sie jetzt herausfinden, welche Verbindung zwischen
David und dem Mann bestand? Sandra verließ das Bett und betrachtete das Foto
aus der Leica. Was hatte ein Priester mit Davids Recherchen zu tun? Anstatt ihr
weiterzuhelfen, machte dieses Foto alles nur noch komplizierter.
    Ihr Magen knurrte, außerdem fühlte sie sich auf einmal ganz schlapp.
Sie hatte schon seit Stunden nichts mehr gegessen und vielleicht sogar Fieber.
Am Vorabend war sie vollkommen regendurchnässt ins Hotel zurückgekehrt.
    Dafür war ihr in der Sakristei der Kirche San Luigi dei Francesi
klar geworden, dass sie mehr wollte als nur Gerechtigkeit. Sie musste ein
dunkles Bedürfnis befriedigen. Leid macht die seltsamsten Dinge mit uns: Es
macht uns schwach und zerbrechlich. Aber gleichzeitig bestärkt es uns in einem
Wunsch, den wir glaubten, verdrängen zu können: in dem Wunsch, den anderen den
gleichen Schmerz zuzufügen. So als wäre Rache das Einzige, was unseren Schmerz
lindern könnte.
    Sandra begriff, dass sie sich mit dieser dunklen Seite auseinandersetzen
musste. Mit etwas, das sie nie für möglich gehalten hätte. Ich will nicht so
werden!, dachte sie. Gleichzeitig befürchtete sie, sich bereits unwiderruflich
verändert zu haben.
    Sie legte das Bild von dem Priester mit der Narbe beiseite und
konzentrierte sich auf die letzten beiden Fotos, die es noch zu entschlüsseln
galt.
    Auf das dunkle und das von David vor dem Spiegel, der sie mit
erhobener Hand traurig grüßte.
    Sie hielt beide vor sich hin, versuchte, einen Zusammenhang
herzustellen. Doch die Bilder sagten ihr nichts. Sie ließ sie sinken und
erstarrte. Ihr Blick war am Boden hängen geblieben.
    Jemand hatte einen Zettel unter der Tür durchgeschoben.
    Eine Weile musterte sie ihn wie gelähmt. Dann hob sie ihn auf,
schnell, so als mache es ihr Angst. Jemand musste ihn in der Nacht durch den
Türspalt geschoben haben – in den wenigen Stunden, in denen sie endlich Schlaf
gefunden hatte. Sandra sah sich das Stück Papier näher an. Es handelte sich um
ein Heiligenbildchen von einem Dominikanermönch.
    Der heilige Raimund von Peñafort.
    Der Name stand auf der Rückseite, zusammen mit einem lateinischen
Gebet, das man rezitiert, um die Fürsprache des Heiligen zu erbitten. Einige
Sätze waren unleserlich geworden, da jemand etwas in roter Tinte
darübergekritzelt hatte. Etwas, das Sandra das Blut in den Adern gefrieren
ließ. Es war nur ein Wort, eine Unterschrift.
    Fred.

7 Uhr
    Er musste dringend unter Menschen. Der McDonald’s unweit
der Piazza di Spagna war da am frühen Morgen ideal. Die Gäste waren
hauptsächlich ausländische Touristen, die sich partout nicht an das süße,
labbrige italienische Frühstück gewöhnen konnten.
    Marcus suchte das Schnellrestaurant auf, weil er spüren musste, dass
das Leben weiterging – und zwar trotz der Schrecken, die er Tag für Tag
mitbekam. Er musste die Gewissheit haben, in dieser Schlacht nicht völlig auf
sich allein gestellt zu sein. Denn die Paare um ihn herum, die Kinder hatten,
sie liebevoll großzogen und darauf vorbereiteten, eines Tages selbst Eltern zu
werden, spielten eine wichtige Rolle bei der Rettung des Menschengeschlechts.
    Deshalb saß er nun an einem Ecktisch vor einer Brühe, die hier als
Kaffee bezeichnet wurde und die er noch nicht einmal angerührt hatte. Er holte
die Mappe hervor, die Clemente ihm vor einer halben Stunde heimlich in einem
Beichtstuhl übergeben hatte – noch so ein sicherer Ort, den sie benutzten, um
Informationen auszutauschen.
    Die Zeichnung von dem Jungen mit der Schere, die sie auf Jeremiah
Smiths Dachboden gefunden hatten, hatte Clemente sofort an einen drei

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