Der Seelensammler
Leben durchaus nützlich sein konnten,
weil sie unsere Aufmerksamkeit auf Dinge lenkten, die wir sonst nie bemerkt
hätten.
Sandra war zu dem Schluss gekommen, dass manche unerwartet
zusammentreffende Ereignisse tatsächlich nichts weiter zu sagen hatten, also
wirklich »reiner Zufall« waren. Andere dagegen schienen dazu bestimmt zu sein,
jemandes Leben eine andere Wendung zu geben. In ihnen sehen wir »Zeichen«, so
als wären sie Botschaften des Universums oder einer höheren Macht.
Sandra fiel ein, dass Carl Gustav Jung solche Zufälle mit dem
Begriff Synchronizität bezeichnet hatte, sobald sie
drei Voraussetzungen erfüllten: Sie mussten ohne ursächlichen Zusammenhang
auftreten, sich mit einer intensiven emotionalen Erfahrung decken und außerdem
einen starken Symbolcharakter aufweisen.
Laut Jung verbrachten manche Menschen ihr Leben damit, jedem
Zufallsereignis eine tiefere Bedeutung zu verleihen.
Auf sie hatte das nicht zugetroffen, doch sie war eines Besseren
belehrt worden. Und zwar von einer Anekdote Davids, die erklärte, wie eine
merkwürdige Aneinanderreihung von Zufällen dazu geführt hatte, dass sie sich
kennengelernt hatten.
Zwei Tage vor Maria Himmelfahrt war David in Berlin gewesen.
Eigentlich hatte er vorgehabt, sich mit Freunden auf Mykonos zu treffen. Sie
wollten zusammen einen Segeltörn um die griechischen Inseln machen. Doch an
jenem Morgen hatte der Wecker nicht geklingelt, und er war spät aufgestanden.
Trotzdem schaffte er es, pünktlich zum Einchecken am Flughafen zu sein. Er
wusste noch, wie er gedacht hatte: »Was für ein Glück!«, ohne zu ahnen, was ihn
noch alles erwartete.
In Rom musste er umsteigen. Aber noch bevor er den zweiten Flieger
nehmen konnte, teilte ihm die Fluggesellschaft mit, sein Gepäck sei aus
Versehen in Berlin geblieben.
David hatte nicht vor, sich deswegen seine Reise verderben zu
lassen. Nachdem er sich am Flughafen schnell einen neuen Koffer und neue
Kleider gekauft hatte, war er rechtzeitig am Check-in-Schalter für den
Direktflug nach Athen erschienen. Nur um festzustellen, dass er überbucht war.
Eigentlich hätte er um elf Uhr abends am Bug eines Dreimasters
sitzen und mit einem wunderschönen indischen Model, das er zwei Wochen zuvor in
Mailand kennengelernt hatte, eiskalten Ouzo schlürfen sollen. Stattessen befand
er sich in einer Abflughalle voller Touristen und füllte Versicherungsformulare
aus, um für den Gepäckverlust entschädigt zu werden.
Er hätte bis zum nächsten Tag warten und den ersten verfügbaren Flug
nehmen können, doch er wusste, dass er das nicht ausgehalten hätte. Also hatte
er beschlossen, sich einen Mietwagen zu nehmen und sich in Brindisi auf einer
Fähre nach Griechenland einzuschiffen.
Nachdem er etwa fünfhundert Kilometer zurückgelegt hatte und die
ganze Nacht über gefahren war, sah er, wie die Sonne über der apulischen Küste
aufging. Laut den Verkehrsschildern hatte er sein Ziel fast erreicht. Doch
genau in diesem Moment fing sein Wagen plötzlich an zu spinnen. Der Motor wurde
immer schwächer und ging schließlich aus.
Nachdem er am Straßenrand liegen geblieben war, war David
ausgestiegen. Doch statt mit seinem Schicksal zu hadern, hatte er die
Landschaft um ihn herum betrachtet. Rechts von ihm lag hoch oben auf einem
Felsen ein weißes Dorf. Auf der anderen Seite kam nach wenigen Hundert Metern
das Meer.
Er war zum Strand gelaufen, der so früh am Morgen noch ganz
verlassen dalag. Direkt am Wasser hatte er nach einer seiner Aniszigaretten
gegriffen und mit ihr zwischen den Lippen zugesehen, wie die Sonne immer höher
stieg.
Als er in diesem Moment nach unten schaute, entdeckte er zierliche
Fußspuren im nassen Sand. Instinktiv ordnete er sie einer Frau zu, die zum
Joggen an den Strand gekommen war. Da die Küste an dieser Stelle mehrere
Buchten aufwies, war die Urheberin dieser Fußspuren bereits aus seinem
Blickfeld verschwunden. Viel Zeit konnte jedoch noch nicht vergangen sein, denn
sonst hätte die Brandung sie bereits verschwinden lassen.
Wenn er im Nachhinein davon erzählte, konnte er nur schwer erklären,
was ihm in diesem Moment durch den Kopf gegangen war. Plötzlich hatte er
einfach das Bedürfnis gehabt, diesen Spuren zu folgen.
An der Stelle hatte Sandra ihn immer gefragt, woran er erkannt habe,
dass die Spuren von einer Frau stammten.
»Sicher sein konnte ich mir natürlich nicht – ich habe es eben
einfach gehofft. Stell dir vor, ich wäre einem Jungen oder einem
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