Der Seelensammler
kleinwüchsigen
Mann begegnet!«
Diese Erklärung hatte sie nie ganz überzeugt. Als Polizistin fragte
sie automatisch weiter: »Und woher wusstest du, dass die Spuren beim Joggen
entstanden waren?«
Aber auch darauf hatte David eine Antwort: »Die Spuren im Sand waren
am Fußballen tiefer, deshalb musste hier jemand entlanggerannt sein.«
»Okay, das ist glaubwürdig.«
David fuhr mit seiner Anekdote fort: Nachdem er mehrere Hundert
Meter gerannt war und eine Düne erklommen hatte, entdeckte er eine weibliche
Gestalt. Sie trug eine kurze Hose, ein enges T-Shirt und Turnschuhe. Ihr blondes
Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er konnte ihr Gesicht nicht
erkennen, hätte aber am liebsten nach ihr gerufen. Doch da er nicht mal ihren
Namen kannte, war das keine besonders intelligente Idee.
Stattdessen beschleunigte er seine Schritte.
Was sollte er sagen, wenn er sie eingeholt hatte? Je näher er ihr
kam, desto deutlicher wurde ihm bewusst, dass er sich wirklich etwas einfallen
lassen musste, um nicht wie ein Vollidiot dazustehen. Aber ihm fiel nichts ein.
Mit letzter Kraft holte er sie ein. Sie war sehr schön.
Wenn Sandra das hörte, musste sie grinsen.
David entschuldigte sich und bat die Unbekannte, stehen zu bleiben.
Sie gehorchte nur widerwillig und musterte den keuchenden Gestörten von Kopf
bis Fuß. Mit Sicherheit machte er keinen besonders guten Eindruck auf sie,
schließlich trug er seit vierundzwanzig Stunden dieselben Kleider, hatte eine
ganze Nacht nicht geschlafen, schwitzte vor Anstrengung und roch garantiert
nicht sehr gut.
»Ciao, ich bin David!«, sagte er nur und streckte ihr die Hand
entgegen. Sie starrte sie nur an, ohne danach zu greifen. Fast schon
angewidert, so als hätte er ihr verdorbenen Fisch angeboten. Also setzte er
rasch nach: »Weißt du, was Carl Gustav Jung über den Zufall sagt?« Nur um ihr
scheinbar unmotiviert zu erzählen, was er seit seinem Abflug aus Berlin alles
mitgemacht hatte. Sie hörte wortlos zu und fragte sich wohl, worauf er hinauswollte.
Sie ließ ihn ausreden und sagte dann, ihre Begegnung könne wohl kaum
ein Zufall sein: Denn trotz der Ereignisse, die ihn an diesen Strand geführt
hatten, habe er bewusst beschlossen, ihren Fußspuren zu folgen. Womit die
Theorie der »Synchronizität« hinfällig sei.
»Und wer behauptet das?«
»Jung.«
Diesem Argument konnte David leider nichts entgegensetzen. Weil er
nicht wusste, was er sonst noch sagen sollte, verabschiedete er sich und machte
kehrt. Während des gesamten Rückwegs dachte er darüber nach, wie schön es gewesen
wäre, wenn diese Frau tatsächlich etwas ganz Besonderes, ja, die Frau seines
Lebens gewesen wäre. Wie originell es gewesen wäre, sich auf diese Art zu
verlieben und später eine solche Kennenlerngeschichte erzählen zu können.
Nämlich die, wie eine Reihe unglücklicher Ereignisse zu einer großen Liebe
geführt hatten.
Und das alles nur wegen eines verloren gegangenen Koffers!
Doch das Mädchen, von dem er nicht einmal den Namen wusste, war ihm
nicht nachgelaufen. Stattdessen hatte er einen Monat lang vergeblich darauf
gewartet, dass die Fluggesellschaft seinen Koffer fand. Dann war er in Mailand
aufs Polizeirevier gegangen, um den Diebstahl anzuzeigen. Dort war er Sandra
zum ersten Mal begegnet, und zwar am Kaffeeautomaten. Sie waren miteinander ins
Gespräch gekommen, sich sympathisch gewesen und schon wenige Wochen später zusammengezogen.
Sogar hier in dem römischen Hotelzimmer, in dem Sandra mit dem
Wissen aufgewacht war, dass David ermordet worden war und sie seinen Mörder
finden musste, kam sie nicht umhin zu lächeln.
Immer wenn David diese Anekdote neuen Freunden erzählt hatte,
dachten alle, das Mädchen am Strand wäre sie gewesen. Doch das Erstaunliche
daran war, dass die banalsten Dinge oft die größten Chancen bargen. Denn das
Herz eines Mannes oder einer Frau brauchte keine »Zeichen«.
Manchmal reichte es schon aus, dass man sich unter Milliarden von
Menschen erkannte.
Hätte sie damals an jenem Kaffeeautomaten keinen Fünfeuroschein und
David das passende Kleingeld gehabt, wären sie vielleicht nie miteinander ins
Gespräch gekommen. Dann wären sie als Fremde auseinandergegangen, ohne etwas
von der Liebe zu ahnen, die sie sich zu geben hatten. Andererseits hätte sie
dann jetzt auch nicht so leiden müssen.
Wie oft am Tag passiert genau das, ohne dass wir es bemerken? Wie
viele Menschen begegnen sich rein zufällig und lassen einander einfach
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