Der Seelensammler
Jahre
zurückliegenden Fall erinnert. Noch in der Villa hatte er ihn kurz für Marcus
zusammengefasst, war aber anschließend gleich losgezogen, um die dazugehörige
Akte aus dem Archiv zu holen. Das Aktenzeichen auf der Mappe lautete c.g. 554-33-1, doch alle Welt nannte ihn nur den
»Figaro-Fall«. Denn so hatten die Medien ihn nach dem Täter benannt, was
durchaus treffend war, wenn auch etwas pietätlos den Opfern gegenüber.
Marcus schlug die Akte auf und las sich die Zusammenfassung durch.
Der Tatort, den die Polizei eines Freitagabends in einem Haus mit
Garten im Viertel Nuovo Salario vorgefunden hatte, ließ die Beamten
erschaudern: Ein siebenundzwanzigjähriger Mann lag halb bewusstlos in einer
Lache seines Erbrochenen, und zwar vor einer Treppe, die ins obere Stockwerk
führte. Nur wenige Meter von ihm entfernt stand der Rollstuhl, den er brauchte,
um sich fortzubewegen. Er war kaputt. Federico Noni war querschnittgelähmt, und
zunächst nahmen die Beamten an, er wäre nur unglücklich gestürzt. Doch dann
waren sie ins Obergeschoss gegangen und hatten eine makabre Entdeckung gemacht.
In einem der Zimmer lag die verstümmelte Leiche seiner Schwester
Giorgia Noni.
Die Fünfundzwanzigjährige war nackt und wies überall am Körper tiefe
Stichwunden auf. Der Stich, der tödlich gewesen war, hatte ihr den Bauch
aufgerissen.
Nachdem der Gerichtsmediziner die Verletzungen analysiert hatte, kam
er zu dem Schluss, dass die Tatwaffe eine Schere gewesen war. Clemente hatte
Marcus bereits vorgewarnt und ihm gesagt, dass sich dieser Gegenstand einer
traurigen Berühmtheit erfreue, weil damit irgendein Verrückter schon auf drei
Frauen losgegangen war. Daher der Name »Figaro«. Die anderen Opfer hatten
überlebt, aber diesmal war der Täter einen Schritt weitergegangen und zum
Mörder geworden.
Ein Verrückter, aber das trifft es nicht ganz, dachte Marcus. Denn
diese Person war weitaus mehr als das: In seinem kranken Hirn war das, was er
mit der Schere anrichtete, notwendig – ganz einfach, weil es ihm Lust
bereitete. Er wollte die Angst und das aus den Wunden schießende Blut seiner
Opfer riechen.
Marcus sah kurz von der Akte auf, weil er sich nach Normalität
sehnte. Er fand sie in einem Mädchen, das in einiger Entfernung andächtig ein
Happy Meal auspackte. Es leckte sich bereits die Lippen und strahlte vor
Vorfreude.
Wann beginnt die Verwandlung?, fragte sich Marcus. Wann nimmt die
Lebensgeschichte eines Menschen einen unumkehrbaren Verlauf? Aber es geschieht
nicht immer. Manchmal läuft alles so, wie es laufen sollte.
Der Anblick des Mädchens genügte, um ihm wieder ein wenig Vertrauen
in die Menschheit zurückzugeben. Jetzt konnte er sich erneut in die Abgründe
dieses Falles stürzen.
Marcus griff zum Polizeiprotokoll und vertiefte sich in den
Tathergang.
Der Mörder war durch die Haustür hereingekommen. Giorgia Noni hatte
sie leichtsinnigerweise offen gelassen, nachdem sie vom Einkaufen zurückgekommen
war. Figaro hatte die Angewohnheit, seine Opfer in Supermärkten auszuwählen und
ihnen dann nach Hause zu folgen. Die anderen Frauen waren während des Überfalls
stets allein gewesen, doch diesmal war der Bruder im Haus. Er war ein vielversprechender
Sportler gewesen, doch ein banaler Motorradunfall hatte seine Karriere beendet
und dafür gesorgt, dass er nicht mehr laufen konnte. Laut der Aussage des jungen
Mannes hatte Figaro ihn von hinten überrascht. Er hatte den Rollstuhl
umgekippt, sodass Noni mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug und das Bewusstsein
verlor. Anschließend hatte der Täter Giorgia im Obergeschoss aufgesucht, wo er
ihr die Behandlung angedeihen ließ, die er für alle seine Opfer in petto hatte.
Federico war wieder zu sich gekommen und hatte festgestellt, dass
sein Rollstuhl kaputt war. Den Schreien seiner Schwester entnahm er, dass sich
dort oben etwas Furchtbares abspielen musste. Er rief vergeblich um Hilfe und
versuchte, die Treppe hinaufzukriechen. Aber er war nicht kräftig genug, außerdem
war er noch ganz benommen von dem Sturz, sodass er gezwungen war, aufzugeben.
Hilflos musste er alles mitanhören, ohne dem Menschen zur Hilfe
eilen zu können, den er am allermeisten liebte: seine Schwester, die sich
aufopfernd um ihn kümmerte und das wahrscheinlich ihr Leben lang getan hätte.
Doch er war am Fuß dieser vermaledeiten Treppe liegen geblieben und hatte
ebenso wütend wie machtlos gebrüllt.
Eine Nachbarin, die die Schreie hörte, rief schließlich die Polizei.
Als
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