Der Seelensammler
Ablasshandel geführt hat.«
»Richtig. Es gab Strafen, die ausschließlich dem Papst vorbehalten
waren, wie die Dispens, aber auch Begnadigungen, die nur das Kirchenoberhaupt
gewähren konnte. Aufgaben, die der Papst allein kaum noch bewältigen konnte. Deshalb
delegierte er sie an einige Kardinäle, die dann das Dikasterium der
Pönitenziarie ins Leben riefen.«
»Ich verstehe nicht, was das heute noch für eine Rolle spielt.«
»Anfangs wurde der Beichttext nach Ergehen eines Urteils verbrannt.
Aber nach einigen Jahren beschlossen die Pönitenziare, sie zu archivieren … bis
heute.«
So langsam dämmerte Sandra die Tragweite des Ganzen.
»Seit fast tausend Jahren werden in diesem Geheimarchiv die
schlimmsten Sünden der Menschheit gesammelt«, fuhr Schalber fort. »Darunter
Verbrechen, von denen noch nie jemand gehört hat. Eine Beichte ist schließlich
kein erzwungener, sondern ein freiwilliger Akt des Reuigen und somit aufrichtig.
Deshalb ist die Apostolische Pönitenziarie auch nicht wie eine simple
Polizeidatenbank, in der irgendwelche Statistiken erfasst werden.«
»Aber was ist sie dann?«
Schalbers grüne Augen begannen zu leuchten. »Es ist das größte,
aktuellste Archiv des Bösen überhaupt.«
Sandra blieb skeptisch. »Hat das irgendetwas mit dem Teufel zu tun?
Was sind das für Priester? Irgendwelche Exorzisten?«
»Nein, nein!«, widersprach er sofort. »Die Pönitenziare interessieren
sich nicht für den Teufel. Sie verfolgen einen wissenschaftlichen Ansatz und
sind im Grunde Profiler . Dank des Archivs konnten sie
ihre Kenntnisse immer mehr verfeinern. Im Lauf der Zeit haben sie nicht nur
Beichten, sondern auch sämtliche Verbrechen statistisch erfasst. Sie
beschäftigen sich damit und analysieren sie wie moderne Kriminologen.«
»Willst du damit sagen, dass sie auch Fälle aufklären?«
»Das kann durchaus vorkommen.«
»Aber die Polizei weiß nichts davon …«
»Die Pönitenziare sind äußerst geschickt darin, ihr Geheimnis zu
wahren. Im Grunde gelingt ihnen das schon seit Jahrhunderten.«
Sandra ging zum Frühstückstablett und schenkte sich eine große Tasse
Kaffee ein. »Wie gehen sie vor?«
»Sobald sie vor der Aufklärung eines Falles stehen, leiten sie die
Informationen anonym an die Behörden weiter. Manchmal schreiten sie auch selbst
ein.«
Schalber ging zu einer Reisetasche in einer Zimmerecke und wühlte
darin. Unterdessen fielen Sandra die Adressen in Davids Kalender wieder ein,
die er dem Polizeifunk entnommen hatte: Ihr Mann hatte gehofft, dem Priester an
diesen Tatorten zu begegnen.
»Da ist er!«, verkündete der Interpolbeamte und hielt eine Akte in
Händen. »Der Fall des kleinen Matteo Ginestra aus Turin. Das Kind war plötzlich
verschwunden, und die Mutter dachte, der Vater hätte es entführt. Die Eltern
lebten getrennt, und der Ehemann war mit der gerichtlich verfügten Sorgerechtsentscheidung
nicht einverstanden. Anfangs war der Mann unauffindbar, danach stritt er ab,
den Sohn versteckt zu halten, um ihn seiner Mutter zu entziehen.«
»Und wer war es dann?«
»Noch während die Polizei dieser Sache nachging, tauchte das Kind
wohlbehalten wieder auf. Wie sich später herausstellte, war es von einer Gruppe
älterer Jungen entführt worden, die ausnahmslos aus gutem Hause stammten. Sie
hielten das Kind in einem verlassenen Gebäude gefangen und hatten vor, es
umzubringen – nur so zum Spaß oder aus Neugier. Das Kind erzählte, jemand sei
in das Haus eingedrungen und habe es gerettet.«
»Theoretisch kann das jeder gewesen sein – warum ausgerechnet ein
Priester?«
»Wenige Meter vom Fundort entfernt fand man Notizen, in denen genau
stand, was passiert war. Einer der jugendlichen Täter hatte Gewissensbisse
bekommen und dem Priester seiner Gemeinde alles gebeichtet. Die Notizen
enthielten den exakten Wortlaut der Beichte – jemand musste sie verloren
haben.«
Schalber gab ihr die Akte. »Schau mal, was da am Rand steht!«
»Ein Code: c.g. 764-9-44 «, las Sandra laut
vor. »Was hat das zu bedeuten?«
»Das ist ein Aktenzeichen, das die Pönitenziare vergeben. Die
Ziffern haben keine besondere Bedeutung, aber die Abkürzung steht für culpa gravis .«
»Ich verstehe das nicht: Warum hat David in dieser Sache
recherchiert?«
»Reuters hatte ihn in dem Fall nach Turin geschickt. David war es,
der die Notizen beim Fotografieren gefunden hat. Und damit nahm alles seinen
Lauf.«
»Und was hat Interpol damit zu tun?«
»Auch wenn du es vielleicht für
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