Der Seelensammler
verhindern? Hat er es hingegen
mit einkalkuliert, ist er nicht so gut, wie er uns weismacht.«
»Ich würde dir jetzt gern sagen, dass sein Plan einfach zu hoch für
uns ist. Dass ein Mensch allein den übergeordneten Sinn nicht begreifen kann.
Aber in Wahrheit weiß ich darauf auch keine Antwort.«
»Das ist wenigstens ehrlich! Ich weiß das sehr zu schätzen.« Zini
stand auf. »Komm mit, ich möchte dir was zeigen.«
Er griff nach seinem Stock und ging ins Haus. Marcus folgte ihm.
Dort war alles sehr aufgeräumt und sauber – ein Zeichen dafür, dass Zini
tatsächlich unabhängig war. Der Polizist ging zum Plattenspieler und steckte
die Dvořák-Platte zurück in ihre Hülle. Dabei fiel Marcus ein mehrere Meter
langes Seil in einer Zimmerecke auf. Wie oft der Polizist wohl schon versucht
gewesen war, es zu benutzen?
»Dass ich meinen Waffenschein zurückgegeben habe, war ein Fehler«,
sagte Zini trocken, so als könnte er Gedanken lesen. Dann nahm er an einem
Schreibtisch Platz, auf dem ein PC stand. Vor der Tastatur befanden sich ein
Brailledisplay und zwei Lautsprecher. »Was du jetzt hören wirst, wird dir ganz
und gar nicht gefallen.«
Marcus überlegte, worum es sich handeln könnte.
»Aber vorher möchte ich dir sagen, dass dieser Junge, Federico Noni,
bereits genug gelitten hat.« Zini klang bedrückt. »Seit Jahren kann er seine
Beine nicht mehr benutzen – ausgerechnet er, ein ehemaliger Leistungssportler!
Und dann wurde auch noch seine Schwester brutal ermordet, mehr oder weniger
direkt vor seinen Augen. Kannst du dir das auch nur ansatzweise vorstellen?
Überleg mal, wie machtlos er sich gefühlt haben muss! Wer weiß, welche
Schuldgefühle ihn quälen, obwohl er doch gar nichts getan hat.«
»Und was hat das mit dem zu tun, was du mir gleich demonstrieren
wirst?«
»Das hat insofern etwas damit zu tun, als Federico ein Recht darauf
hat, dass Gerechtigkeit hergestellt wird. Wie auch immer sie aussehen mag.«
Pietro Zini legte eine Pause ein, um sicherzugehen, dass Marcus ihn
verstanden hatte. »Mit einer Behinderung kann man leben, aber nicht mit
Zweifeln.«
Das musste genügen. Der Polizist bediente das Display. Die Technik
war eine enorme Hilfe für Blinde. Zini konnte damit ganz normal im Internet
surfen, chatten, E-Mails empfangen oder verschicken. Im Netz würde niemandem
etwas auffallen. Der Cyberspace diskriminiert niemanden.
»Vor ein paar Tagen bekam ich eine Mail«, verkündete der Polizist.
»Ich werde sie dir vorspielen …«
Zinis Computer verfügte über eine Sprachausgabe. Der Mann machte die
Lautsprecher an und lehnte sich abwartend zurück. Die elektronische Stimme
leierte zuerst einen Yahoo-Benutzernamen herunter. Die Mail hatte keinen
Betreff, sodass die Stimme sofort den Text wiedergab.
»Er-ist-nicht-so-wie-du … Such-im-Park-Vil-la-Glo-ri.«
Mit einer Taste stoppte Zini die Stimme. Marcus war völlig
überrumpelt: Der Absender dieser rätselhaften Botschaft konnte nur der
Unbekannte sein, der sie hierhergeführt hatte. Warum hatte er sich an einen
blinden Polizisten gewandt?
»›Er ist nicht so wie du‹ – was soll das heißen?«
»Ehrlich gesagt finde ich den zweiten Teil deutlich beunruhigender:
»›Such im Park Villa Glori.‹«
Zini stand auf, ging auf ihn zu, nahm seinen Arm und sagte
flehentlich: »Ich kann dort nicht hingehen. Jetzt weißt du, was du zu tun hast.
Finde heraus, was es in diesem Park zu sehen gibt!«
14 Uhr 12
In den Monaten nach Davids Tod war die Einsamkeit ein
kostbarer Kokon gewesen: kein Zustand, sondern ein Ort. Der Ort, an dem sie
weiterhin mit ihm reden konnte, ohne sich wie eine arme Irre zu fühlen. Sandra
hatte sich in eine Art Blase aus Traurigkeit zurückgezogen, an der alles andere
abprallte. Solange sie darin blieb, konnte ihr nichts und niemand etwas
anhaben. Paradoxerweise schaffte es der Schmerz, sie zu beschützen.
Bis zu den Schüssen, die sie an diesem Morgen in der Kapelle des
heiligen Raimund von Peñafort beinah getroffen hatten.
Sie hatte Angst gehabt zu sterben. In diesem Moment war die Blase
geplatzt. Sie wollte leben! Und deshalb hatte sie David gegenüber ein
schlechtes Gewissen. Fünf Monate lang hatte sich ihr Leben in einem
Schwebezustand befunden. Die Zeit verging, aber sie verharrte. Nun fragte sich
Sandra, wie loyal eine Frau gegenüber ihrem Mann sein musste. War es falsch,
leben zu wollen, obwohl er tot war? War das eine Art Verrat? Sie wusste, dass
das Unsinn war. Aber zum ersten Mal hatte sie
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