Der Seelensammler
sich von David entfernt.
»Sehr interessant.«
Schalbers Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie waren in Sandras
Hotelzimmer, und der Interpolbeamte saß mit den Leica-Fotos auf dem Bett. Er
hatte sie eins nach dem anderen immer wieder betrachtet.
»Und es sind wirklich nur vier? Mehr gab es nicht?«
Sandra befürchtete, dass er ihr kleines Täuschungsmanöver
durchschaute: Sie hatte beschlossen, ihm das Foto von dem Priester mit der
Narbe an der Schläfe nicht zu zeigen. Schalber war Polizist, und sie wusste,
wie Polizisten tickten: Der Satz »Im Zweifel für den Angeklagten« war ihnen
völlig fremd.
»Auch wenn du es vielleicht für eine gute Sache hältst: Was die
Pönitenziare da tun, ist illegal. Ihre Aktivitäten kennen weder Grenzen noch
Regeln«, hatte er gesagt, als er ihr erklärte, worin die Pönitenziare ihre
Aufgabe sahen. Deshalb verstieß der Mann für Schalber gegen das Gesetz, und
nichts würde ihn davon abbringen können.
Auf der Polizeischule hatte auch Sandra gelernt, dass jeder schuldig
ist, bis das Gegenteil bewiesen ist, und nicht umgekehrt. Man durfte niemandem
glauben. Ein guter Polizist stellte bei einer Vernehmung alles infrage. Sie
hatte einmal einen Ausflügler in die Mangel genommen, der in einer Schlucht
eine Frauenleiche entdeckt hatte. Im Grunde war offensichtlich, dass der Mann
nichts mit der Toten zu tun hatte, er hatte den Fund nur gemeldet. Doch sie
hatte ihn mit unbedeutenden Fragen bombardiert, ihn jede seiner Antworten wiederholen
lassen und vorgegeben, ihn nicht verstanden zu haben, um ihn zu Widersprüchen
zu bewegen. Der Ärmste hatte diese Tortur hingenommen und in seiner Naivität
geglaubt, damit zur Aufklärung des Mordes beizutragen. Dabei hätte er beim
geringsten Verdacht selbst im Gefängnis landen können.
Ich weiß genau, was du vorhast, Schalber! Aber das werde ich nicht
zulassen. Nicht, bis ich weiß, ob ich dir wirklich trauen kann.
»Es waren nur vier«, bekräftigte Sandra.
Der Beamte musterte sie durchdringend, in der Hoffnung, dass sie
sich durch irgendetwas verriet. Es gelang ihr, seinen Blick gelassen zu
erwidern. Sie glaubte schon, die Prüfung bestanden zu haben, doch das war ein
Irrtum.
»Du hast vorhin gesagt, dass du einem von ihnen begegnet bist. Also
frage ich mich, woran du ihn erkannt hast, wenn du ihn nie zuvor gesehen hast.«
Sandra merkte, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie ärgerte
sich, dass sie Schalber gegenüber die Begegnung mit dem Priester erwähnt hatte.
»Ich bin in die Kirche San Luigi dei Francesi gegangen, um mir
Davids Foto von dem Caravaggio-Gemälde anzusehen. Der Mann hat mich erkannt und
ist dann sofort verschwunden«, log sie. »Ich bin ihm gefolgt und habe ihn mit
der Pistole bedroht, bis er mir gesagt hat, dass er Priester ist.«
»Heißt das, er wusste, wer du bist?«
»Keine Ahnung, wieso, aber er schien mich zu kennen.«
Schalber nickte. »Verstehe.«
Das hatte er nicht geschluckt, da war sich Sandra sicher. Aber er
ließ die Sache vorerst auf sich beruhen. Einen Vorteil hatte das Ganze in jedem
Fall: Er konnte sie nicht von seinen Ermittlungen ausschließen. Sie versuchte,
das Thema zu wechseln: »Das dunkle Foto, was zeigt es deiner Meinung nach?«
Er war kurz abgelenkt, konzentrierte sich aber sofort wieder. »Das
weiß ich nicht. Noch sagt es mir nichts.«
Sandra erhob sich vom Bett. »Na gut, und wie wollen wir jetzt
vorgehen?«
Schalber gab ihr die Fotos zurück. »Figaro!«, sagte er nur. »Er
wurde gefasst. Aber wenn sich die Pönitenziare für den Fall interessieren, muss
das einen Grund haben.«
»Was willst du unternehmen?«
»Der Angreifer wurde zum Mörder: Figaros letztes Opfer ist
gestorben.«
»Willst du bei ihr anfangen?«
»Bei ihrem Bruder: Er war dabei, als sie umgebracht wurde.«
»Die Ärzte waren sich sicher, dass ich bald wieder laufen
kann.«
Federico Noni hatte die Hände auf die Oberschenkel gelegt und hielt
den Blick gesenkt. Er hatte sich schon länger nicht mehr rasiert, und sein Haar
wirkte ungepflegt. Unter dem grünen T-Shirt waren die Muskeln des einstigen
Sportlers noch zu erahnen. Aber die Beine in der Jogginghose waren mager und
steif. Seine Füße ruhten in den Fußstützen des Rollstuhls. Er trug
Nike-Turnschuhe.
Alle diese Details registrierte Sandra, als sie ihn beobachtete. Die
Turnschuhe symbolisierten sein tragisches Schicksal perfekt: Sie sahen aus wie
neu, obwohl er sie sicher schon lange trug.
Schalber und sie waren kurz zuvor bei dem Haus
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