Der Seelensammler
Fell, wobei das Tier bei jeder
Liebkosung schnurrte.
»Ist diese Musik nicht herrlich, Sokrates? Du bist genau wie ich: Du
magst sehnsüchtige Klänge. Aber deinem Bruder gefällt dieser angeberische Mozart
besser.«
Der Kater war graubraun und hatte einen weißen Fleck an der
Schnauze. Irgendetwas erregte seine Aufmerksamkeit, da er sich aufrichtete und
den Liebkosungen seines Herrchens entzog. Er ging auf eine dicke Fliege los,
verlor jedoch bald das Interesse an dem Insekt und rollte sich erneut auf Zini
zusammen. Der fuhr damit fort, ihn zu streicheln.
»Los, raus mit der Sprache!«
Zini machte einen gelassenen Eindruck. Er streckte die Hand nach
einem Glas Limonade auf dem Gartentisch aus und nahm einen Schluck.
»Ich weiß, dass du hier bist. Ich habe dein Kommen auf Anhieb
bemerkt und mich schon gefragt, wann du endlich den Mund aufmachst. Und, bist
du jetzt so weit?«
Eine der Katzen strich um die Beine des Eindringlings. Tatsächlich
war Marcus schon seit zwanzig Minuten dort. Er war durch einen Nebeneingang
hereingekommen, hatte Zini die ganze Zeit beobachtet und sich gefragt, wie er
ihn ansprechen sollte. Er war gut darin, Menschen zu durchschauen, tat sich
aber schwer, mit ihnen zu kommunizieren. Der pensionierte Polizist hatte sein
Augenlicht verloren, so gesehen sollte es ihm eigentlich leichter fallen, das
Wort an ihn zu richten. Außerdem hatte das den Vorteil, dass Zini sein Gesicht
nicht sehen konnte. Doch der sah besser als jeder andere.
»Lass dich nicht täuschen: Nicht ich bin erblindet, es ist meine
Umgebung, die erloschen ist.«
Der Mann strahlte Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit aus. »Ich
bin wegen Nicola Costa gekommen.«
Zini nickte. Kurz verdüsterte sich seine Miene, doch dann lächelte
er. »Du bist einer von ihnen, stimmt’s? Du brauchst gar nicht erst nach einer
Ausrede zu suchen: Ich weiß, dass du mir das nicht verraten darfst.«
Marcus konnte nicht glauben, dass der alte Polizist Bescheid wusste.
»Unter uns Bullen kursieren so einige Gerüchte. Manche halten es für
eine Legende, doch ich glaube daran. Vor vielen Jahren bekam ich einen Fall
übertragen: Eine Mutter war überfallen und ermordet worden, und das
außergewöhnlich brutal. Eines Tages bekam ich einen Anruf. Der Mann am anderen
Ende der Leitung erklärte mir, dass es falsch sei, nach einem Einbrecher zu
fahnden. Anschließend verriet er mir, wo ich den wahren Täter finden könne. Das
war nicht nur irgendein anonymer Anrufer, der Mann war glaubwürdig. Ein verschmähter
Liebhaber hatte die Frau ermordet. Wir haben ihn dann verhaftet.«
»Figaro ist nach wie vor auf freiem Fuß«, warf ihm Marcus vor.
Doch der Mann ging nicht darauf ein. »Wusstest du, dass das Opfer in
vierundneunzig Prozent der Fälle seinen Mörder kennt? Es ist wahrscheinlicher,
von einem engen Verwandten oder langjährigen Freund ermordet zu werden als von
einem Wildfremden.«
»Warum reagierst du nicht auf meinen Vorwurf, Zini? Würdest du nicht
gern mit deiner Vergangenheit abschließen?«
Das Stück von Dvořák war zu Ende, die Nadel des Plattenspielers
stolperte immer weder über dieselbe Rille. Zini beugte sich vor und zwang
Sokrates, von seinem Schoß zu springen. Der Polizist verschränkte die Hände.
»Die Ärzte haben mir schon lange im Voraus gesagt, dass ich erblinden würde.
Ich hatte also Zeit genug, mich an die Vorstellung zu gewöhnen. Ich habe mir
geschworen, in Rente zu gehen, sobald mich die Krankheit in meiner Arbeit
behindert. Und bis es so weit war, habe ich mich vorbereitet: Ich habe Braille
gelernt. Manchmal bin ich mit geschlossenen Augen durchs Haus gelaufen und habe
mich ausschließlich mit dem Tastsinn orientiert. Oder aber ich habe den
Blindenstock benutzt. Ich wollte nicht von anderen abhängig sein. Eines Tages
begannen die Gegenstände zu verschwimmen. Einzelheiten verschwanden, während
andere umso deutlicher hervortraten. Das Licht wurde an den Rändern immer schwächer
und stach mir anderswo ins Auge, wo es Dinge zum Schillern brachte. Es war
unerträglich. In diesen Momenten habe ich mir gewünscht, dass es ganz schnell
dunkel wird. Vor einem Jahr war es dann so weit.« Zini nahm die schwarze Brille
ab und entblößte starre Pupillen, die sich nicht an der grellen Sonne zu stören
schienen. »Ich hätte gedacht, dass ich in dieser Dunkelheit allein bin. Aber
weißt du was? Ich bin überhaupt nicht allein. Bei mir sind alle, die ich in
meiner Laufbahn nicht retten konnte. Die Gesichter der
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