Der Seelensammler
Opfer, die in ihrem
eigenen Blut und in ihren Exkrementen liegen und mich anstarren. Entweder bei
sich zu Hause oder draußen auf der Straße. Auf einem verlassenen Acker oder im
Leichenschauhaus. Ich habe sie hier vorgefunden, sie haben schon auf mich
gewartet. Und jetzt leben sie mit mir wie Gespenster.«
»Wetten, Giorgia Noni ist auch dabei? Was tut sie? Spricht sie mit
dir? Oder beobachtet sie dich und schweigt, sorgt dafür, dass du dich schämst?«
Zini warf das Limonadenglas zu Boden. »Du kannst das nicht
verstehen.«
»Ich weiß, dass du Ermittlungsergebnisse gefälscht hast.«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Es war mein letzter Fall. Ich musste
mich beeilen, mir blieb nicht mehr viel Zeit. Ihr Bruder Federico hatte es
verdient, dass ich ihm einen Schuldigen präsentiere.«
»Und da hast du einfach einen Unschuldigen ins Gefängnis gebracht?«
Der Polizist fixierte Marcus, als könnte er ihn sehen. »Und genau da
irrst du dich: Costa ist nicht unschuldig. Er war schon wegen Stalking und
sexueller Belästigung vorbestraft. Wir haben extreme Gewaltpornos bei ihm
gefunden, illegales Zeug aus dem Internet.«
»Man kann einen Menschen nicht für seine Phantasien verurteilen.«
»Er hat sich auf eine Tat vorbereitet. Weißt du, wie es zu seiner
Verhaftung kam? Er zählte zu den Verdächtigen im Figaro-Fall, also haben wir
ihn im Auge behalten. Eines Abends sahen wir dann, wie er eine Frau verfolgte,
die gerade aus dem Supermarkt kam. Er hatte eine Sporttasche dabei. Wir
brauchten Beweise, mussten eine schnelle Entscheidung treffen: Entweder wir
lassen ihn gehen, mit dem Risiko, dass er ihr etwas antut. Oder wir stoppen
ihn. Ich habe mich für Letzteres entschieden, und zwar zu Recht.«
»Hatte er eine Schere in der Tasche?«
»Nein. Nur Kleider zum Wechseln«, musste Zini zugeben. »Aber es
waren genau die Gleichen, die er bereits trug. Und weißt du, warum?«
»Um nicht aufzufallen, falls er die, die er anhatte, mit Blut
besudelt hätte.« Ein guter Plan.
»Und dann hat er gestanden, uns seine Tat detailliert beschrieben:
Mir hat das genügt.«
»Keines der Opfer konnte irgendwelche Angaben machen, die ihn
belastet hätten. Alle haben erst im Nachhinein behauptet, dass er es war.
Frauen sind nach einer solchen Gewalterfahrung oft so verstört, dass ihnen die
Polizei irgendjemanden präsentieren kann, und sie behaupten, er wäre es
gewesen. Sie können einfach nicht damit leben, dass das Monster, das ihnen so
etwas angetan hat, frei herumläuft: Die Angst, das Erlittene könnte sich
wiederholen, ist stärker als jeder Gerechtigkeitssinn. Für sie ist ein
Schuldiger so gut wie der andere.«
»Federico Noni hat Costa an der Stimme erkannt.«
»Ach ja?«, brauste Marcus auf. »War der Junge geistig stabil, als er
mit dem Finger auf ihn gezeigt hat? Denk nur an die Traumata, die er in den
letzten Jahren erlitten hat!«
Dem konnte Pietro Zini nichts entgegensetzen. Man spürte noch, wie
tough der Polizist einst gewesen war, aber irgendetwas war in ihm zerbrochen.
Der Mann, der einst in der Lage gewesen war, einen Täter allein durch seinen
Blick einzuschüchtern, wirkte jetzt unglaublich verletzlich. Und das nicht nur
wegen seiner Behinderung, im Gegenteil: Sie hatte ihn weiser gemacht. Marcus
war fest davon überzeugt, dass er etwas wusste und dass er ihn nur reden lassen
musste.
»Seit dem Tag, an dem ich erfahren habe, dass ich erblinden würde,
habe ich mir keinen Sonnenuntergang entgehen lassen. Manchmal bin ich auf die
Aussichtsterrasse am Monte Gianicolo gegangen und geblieben, bis das letzte
bisschen Licht verschwunden war. Es gibt Dinge, die wir als selbstverständlich
betrachten, die wir keines Blickes würdigen, auch wenn sie uns immer wieder aufs
Neue erstaunen: die Sterne zum Beispiel. Ich weiß noch, dass ich als Kind gern
im Gras lag und mir all die fernen Welten ausgemalt habe. Bevor ich blind
wurde, habe ich es wieder getan, aber es war nicht mehr das Gleiche. Dafür
hatten meine Augen zu viel Furchtbares gesehen. Einer meiner letzten Anblicke
war Giorgia Nonis Leiche.« Der alte Polizist streckte die Hand aus, um die
Katzen um sich zu scharen. »Im Grunde übersteigt es unsere Vorstellungskraft,
dass Gott uns nur erschaffen hat, um uns leiden zu sehen. Gott ist gut, heißt
es immer. Aber dann kann er nicht allmächtig sein. Oder aber er ist allmächtig,
aber nicht gut. Ein guter Gott würde seine Kinder nie so leiden lassen. Ist er
also einfach nicht in der Lage, all das Leid zu
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