Der Seelensammler
im Nuovo-Salario-Viertel
eingetroffen. Sie hatten lange geklingelt, bis endlich jemand an die Tür kam.
Federico Noni lebte sehr zurückgezogen und wollte niemanden sehen. Um Einlass
zu bekommen, hatte sich Schalber Sandras italienische Dienstmarke ausgeliehen
und sie ihm über die Videoüberwachungsanlage gezeigt. Er hatte sich als
Ispettore ausgegeben. Auch sie hatte gelogen, wenn auch widerwillig. Sie hasste
die Methoden dieses Mannes, seine Arroganz und seine Angewohnheit, andere für
seine Zwecke zu missbrauchen.
Im Haus herrschte Chaos. Es roch muffig, und die Rollläden waren
wahrscheinlich schon eine Ewigkeit nicht mehr hochgezogen worden. Die Möbel
standen so, dass ein Rollstuhl gut daran vorbeikam. Von ihm stammten auch die
Reifenspuren am Boden.
Sandra und Schalber hatten auf dem Sofa Platz genommen, Federico saß
ihnen gegenüber. Hinter ihm befand sich die Treppe zum Obergeschoss. Giorgia
Noni war dort oben ermordet worden. Ob ihr Bruder überhaupt noch einmal dort
gewesen war? Offensichtlich schlief er in dem Feldbett, das im Wohnzimmer
stand.
»Der Eingriff war erfolgreich. Man hat mir versichert, dass ich mich
nach einer Physiotherapie wieder erholen würde. Ich würde hart trainieren
müssen, aber ich würde es schaffen. Ich war körperliche Anstrengungen gewohnt,
das hat mich nicht abgeschreckt. Aber dann …«
Federico versuchte, die wenig einfühlsame Frage Schalbers nach dem
Grund für seine Querschnittslähmung zu beantworten. Der Interpolbeamte hatte
das Gespräch absichtlich mit diesem unangenehmen Thema begonnen. Sandra kannte
die Methode. Ihre Kollegen wandten sie an, wenn sie Verbrechensopfer vernahmen.
Denn Mitleid führte oft dazu, dass sich diese Menschen abschotteten. Gab man
sich dagegen gleichgültig, bekam man hilfreichere Antworten.
»Bei dem Motorradunfall, sind Sie da zu schnell gefahren?«
»Überhaupt nicht! Es war ein lächerlicher Sturz. Ich weiß noch, dass
ich meine Beine anfangs trotz der Brüche bewegen konnte. Doch nach einigen
Stunden habe ich nichts mehr gespürt.«
Auf einer Kommode stand ein Foto von Federico Noni, das ihn als
Motorradrennfahrer neben seiner knallroten Ducati zeigte. Er hielt einen
Integralhelm in der Hand und lächelte in die Kamera. Ein gut aussehender,
glücklicher junger Mann mit gepflegtem Äußeren. Einer, der den Frauen den Kopf
verdreht, dachte Sandra.
»Sie waren also Sportler. In welcher Disziplin?«
»Weitsprung.«
»Und, waren Sie gut?«
Federico zeigte nur auf die Vitrine mit den Siegertrophäen.
»Urteilen Sie selbst!«
Natürlich war sie ihnen sofort aufgefallen. Aber Schalber wollte
Zeit schinden, den jungen Mann provozieren. Er verfolgte eine ganz bestimmte
Strategie, doch Sandra wusste noch nicht, worauf er hinauswollte.
»Giorgia muss stolz auf Sie gewesen sein.«
Schon allein bei der Erwähnung des Namens erstarrte Federico. »Sie
war alles, was mir noch geblieben ist.«
»Und Ihre Eltern?«
Der junge Mann antwortete nur widerwillig, wollte das Thema offensichtlich
so schnell wie möglich hinter sich bringen. »Meine Mutter hat die Familie
verlassen, als wir noch klein waren. Wir sind bei unserem Vater groß geworden.
Aber er hat es nicht geschafft, er hat sie zu sehr geliebt. Er starb, als ich
fünfzehn Jahre alt war.«
»Wie war Ihre Schwester denn so?«
»Sie war der fröhlichste Mensch, den man sich vorstellen kann:
Nichts konnte ihr etwas anhaben, und ihre gute Laune war ansteckend. Nach dem
Unfall hat sie sich um mich gekümmert. Ich wusste, wie sehr ich ihr auf lange
Sicht zur Last fallen würde. Es war nicht richtig, dass sie die Pflege allein
übernahm, aber sie hat darauf bestanden. Meinetwegen hat sie auf alles
verzichtet.«
»Sie hat Tiermedizin studiert …«
»Ja, und sie hatte auch einen Freund. Aber als klar wurde, welche
Verantwortung sie da übernommen hat, hat er sie sitzen lassen. Das klingt jetzt
vielleicht abgedroschen, trotzdem: Giorgia hatte es nicht verdient, zu
sterben.«
Sandra fragte sich, welcher göttliche Plan wohl hinter dieser
Anhäufung von Schicksalsschlägen steckte, die das Leben zweier so sympathischer
junger Menschen zerstört hatten. Erst waren sie von der Mutter verlassen
worden, dann war der Vater gestorben. Jetzt war Federico an den Rollstuhl
gefesselt, und seine Schwester war misshandelt und ermordet worden. Aus
irgendeinem Grund musste Sandra an das Mädchen aus Davids Anekdote denken. Nach
all den Widrigkeiten – dem verlorenen Koffer, dem überbuchten Flug, dem
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