Der Seelensammler
sie es im Einzelnen zu tun hat.«
»Aber du schon.«
»Ich wusste, wie ich euch finden kann. David hat mich zu euch
geführt.«
Der Mann nickte. »Mehr gibt es dazu vermutlich nicht zu sagen.«
»Wie kann ich dich erreichen?«
»Ich werde mich bei dir melden.«
Er wandte sich zum Gehen, aber Sandra hielt ihn auf: »Woher soll ich
wissen, dass du mich nicht an der Nase herumführst? Wie soll ich dir trauen,
wenn ich nicht einmal weiß, wer du bist und was du tust?«
»Du bist bloß neugierig. Und Neugierige machen sich der Todsünde
Hochmut schuldig.«
»Ich will doch nur verstehen!«, rechtfertigte sich Sandra.
Der Priester brachte sein Gesicht ganz nah an die Vitrine mit den
absurden Reliquien heran. »Diese Gegenstände zeugen von Aberglauben. Davon,
dass die Menschen Einblick in eine Dimension bekommen möchten, die sie nichts angeht.
Jeder möchte wissen, was geschieht, wenn seine Zeit auf Erden abgelaufen ist.
Ohne zu verstehen, dass jede Antwort neue Fragen aufwerfen würde. Selbst wenn
ich dir erklären würde, was ich tue, würdest du dich damit nicht zufriedengeben.«
»Dann sag mir wenigstens, warum du es tust …«
Der Pönitenziar schwieg ein paar Sekunden. »Es gibt einen Ort, an
dem das Reich des Lichts auf das der Finsternis trifft. Dort spielt sich alles
ab. Im Reich der Schatten, wo alles schemenhaft, ununterscheidbar, ungewiss
ist. Wir sind die Wächter, die diese Grenze verteidigen. Aber manchmal mogelt
sich jemand an uns vorbei.« Er drehte sich wieder zu Sandra um. »Dann muss ich
ihn in die Finsternis zurückjagen.«
»Vielleicht kann ich dir im Figaro-Fall weiterhelfen«, sagte sie
spontan. Sie sah, dass der Priester wartete. Also holte sie rasch die Akte
hervor, die ihr Zini gegeben hatte, und gab sie ihm. »Ich glaube, etwas über
den Mord an Giorgia Noni herausgefunden zu haben.«
»Bitte erzähl mir mehr.«
Die Freundlichkeit des Pönitenziars überraschte sie. »Federico Noni
ist der einzige Zeuge. Laut seiner Aussage hat der Mörder erst von seiner
Schwester abgelassen, als er die Polizeisirene hörte. Erst dann sei er
geflohen.« Sandra schlug die Akte auf und zeigte dem Priester ein Foto. »Das
sind die Schuhabdrücke Figaros. Sie wurden in der Gartenerde gefunden, nachdem
er durch die Seitentür geflohen war.«
Der Priester beugte sich vor, um den Schuhabdruck in dem Blumenbeet
besser erkennen zu können. »Was ist daran so außergewöhnlich?«
»Federico Noni und seine Schwester Giorgia mussten eine Menge
Schicksalsschläge verkraften: Erst werden sie von der Mutter im Stich gelassen,
dann stirbt der Vater, und schließlich hat Federico einen Unfall. Die Ärzte
sagen, dass er bald wieder laufen kann, doch dazu kommt es nicht. Und dann wird
auch noch Giorgia ermordet. Ein bisschen viel auf einmal.«
»Und was hat das mit den Schuhabdrücken zu tun?«
»David hat mir gern eine ganz bestimmte Anekdote erzählt. Er war
fasziniert von Zufällen, beziehungsweise von Synchronizität, wie Jung es nennt.
Er hat so sehr daran geglaubt, dass er einmal nach einer Pechsträhne den Spuren
einer Joggerin im Sand gefolgt ist: Er war fest davon überzeugt, dass all die
Widrigkeiten nur die Aufgabe hatten, ihn an diesen Strand zu führen. Und dass
die Joggerin die Frau seines Lebens wäre.«
»Wie romantisch!«
Dass das nicht zynisch, sondern aufrichtig gemeint war, merkte
Sandra an der Art, wie er sie ansah. Deshalb fuhr sie fort: »David hat sich nur
in Bezug auf die Joggerin getäuscht. Der Rest hat gestimmt.«
»Wie meinst du das?«
»Wäre mir diese Geschichte neulich nicht wieder eingefallen, könnte
ich dir jetzt nicht die Lösung des Rätsels verraten, das dich so beschäftigt …
Wie alle Polizisten bin ich skeptisch, was Zufälle angeht. Wenn David diese
Anekdote erzählt hat, habe ich jedes Mal versucht, seine Theorie zu widerlegen,
indem ich ihm typische Polizistenfragen stellte: ›Woher hast du gewusst, dass
die Abdrücke von einer Frau stammen?‹ Oder: ›Woher hast du gewusst, dass sie
gejoggt ist?‹ Daraufhin meinte er, die Füße seien viel zu klein für einen Mann
gewesen. Außerdem seien die Spuren am Fußballen tiefer gewesen als an der
Ferse: Folglich sei die Person gerannt.«
Letzteres ließ den Priester aufhorchen – genau wie Sandra es sich
erhofft hatte. Er betrachtete erneut das Foto aus dem Garten.
Die Schuhabdrücke waren an den Fersen tiefer.
»Er ist nicht geflohen … Er ist ganz gemächlich gegangen.«
Ihm war es also auch aufgefallen!
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