Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
Tür. Oft lag sie um diese Zeit wach im Bett und las.
«Mutter?»
Keine Antwort. Er klopfte abermals, jetzt etwas lauter. Erneut keine Reaktion. Leise drückte Jon die Klinke herunter und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Seine Mutter lag im Bett, die Augen geschlossen. Die Vorhänge waren weit aufgezogen, die Fenster geöffnet, ein frischer, seidiger Herbstwind wehte herein, Sonnenlicht durchflutete das Zimmer. Jon ging auf Zehenspitzen hinein. Seine Mutter mußte bereits aufgewesen sein. Er trat an ihr Bett.
«Mutter?» sagte er etwas lauter. Er wollte sie so sanft wie möglich wecken und strich zweimal kurz über das Fußende der Bettdecke. «Ich werde jetzt gleich ...» Er hielt inne. Auf dem Nachttisch stand eine Karaffe, nur noch halb gefüllt mit Wasser, ein Glas, leer. Daneben lagen zwei geöffnete Tablettenröhrchen und ein Brief. Jon wußte sofort, was los war. Er beugte sich über sie, faßte sie an den Schultern, rief, stammelte, rüttelte, schüttelte sie, fiel auf die Knie.
«O Gott ... Gott ... was ... was hast du getan? ...»
Instinktiv tastete er mit den Fingern über ihr Handgelenk, konnte aber keinen Puls mehr fühlen. Er legte sein Ohr an ihren Mund, um festzustellen ob sie noch atmete. Er glaubte, einen schwachen, sehr schwachen Hauch zu spüren. Sie war noch nicht tot. Sie schlief nur. Er sprang auf, nahm den Brief hoch, der zugeklebt war und auf dem sein Name stand, warf ihn auf den Nachttisch zurück. Dann rannte er zum Fenster, sah hinaus, schloß es, setzte sich auf einen der Stühle, die gegenüber dem Ehebett seiner Eltern standen, und starrte verzweifelt zu seiner Mutter hinüber, die bleich und schön wie ein Engel dalag.
Er wußte in seiner Panik nicht, was er tun sollte. Das Wichtigste fiel ihm in diesem Augenblick nicht ein. Er war wie in Stricken gefangen, die jemand um seine Seele und sein Herz gelegt hatte. Er raufte sich die Haare, Schweißperlen traten auf seine Stirn. Hätte man ihn gefragt, wie sein Name sei und wo er sich gerade befinde, er hätte keine Antwort gewußt.
Ein paar Minuten später hatte er sich aus seinem Schock gelöst und Dr. Eggers angerufen. Der Arzt war sofort da. Er bestellte einen Krankenwagen, der Hanna Rix in die Klinik von Albershude brachte. Doch es war bereits zu spät, man konnte ihr nicht mehr helfen. Sie hatte ihrem Leben ein Ende gesetzt. In dem Brief, den sie ihrem Sohn hinterlassen hatte, gab sie nur eine kurze Erklärung dafür ab. Sie sei zu müde gewesen, um weiterleben zu können, es habe für sie keine Freude mehr gegeben, und ihr Sohn, ihr einziges Glück, sei nun alt genug, den Weg allein weiterzugehen. Sie vermachte ihm ein kleines Vermögen, das sie heimlich, sogar ohne das Wissen ihres Mannes, auf einer Bank für ihn angelegt hatte. Schließlich bat sie um Verzeihung für ihre Entscheidung. Aber Jon konnte ihr nicht verzeihen. Er blieb verzweifelt und sprachlos zurück. Das Schlimmste war, daß er seinem Vater, als der aus Kiel zurückkehrte, die Nachricht vom Tode der Mutter überbringen mußte.
Richard Rix war ebenso fassungslos wie Jon, und beide konnten einander nicht helfen. Sein Vater rannte aus der Dorfschule hinaus, in den Garten hinter dem Gebäude, setzte sich in die Laube und heulte die ganze Nacht über, untröstlich, wie Jon später erzählte, «wie ein Wolf».
Isabelle, die von dem Schicksalsschlag nichts wußte, wunderte sich zunächst, als Jon zur verabredeten Zeit nicht kam. Dann wurde sie sauer, weil sie nichts von ihm hörte. Schließlich rief sie, wutentbrannt im Wohnungsflur stehend, bei ihm zu Hause an. Doch keiner hob ab. Jon, der zu dieser Zeit zwei Polizisten aus Albershude das Geschehen zu Protokoll geben mußte, hatte in der Aufregung und der Trauer alles um sich herum vergessen. Mitten in der Nacht, als er grübelnd in seinem Zimmer im Bett lag, fiel es ihm wieder ein. Er schreckte hoch und sah auf den Wecker. Es war zwei Uhr nachts, er konnte Isabelle nicht mehr anrufen.
Verzweifelt fiel er in die Kissen zurück und fing zum erstenmal in den letzten Stunden an zu weinen. Denn das Allerschlimmste war, daß Jon sich die Schuld am Tod seiner Mutter gab. Er warf sich vor, ihre Signale nicht richtig gedeutet, sich nicht ausreichend um sie gekümmert, vor allem aber, in jenem Moment, als sie noch lebte, nicht schnell genug reagiert zu haben. Die Schuldgefühle waren schier erdrückend, und sie führten schließlich dazu, daß Jon eine alles verändernde Entscheidung traf.
Am Samstag kam Isabelle
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