Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
Kopfsteinpflaster tanzend, in der Dunkelheit verschwand. Ihre Silhouette – die Baskenmütze schräg auf dem Kopf, die fliegenden Haare, der Regenmantel, die Aktenmappe unter dem Arm, die langen Beine – war das, was Isabelle sich zärtlich von ihrer Freundin einprägte und im Gedächtnis behielt. Es war einer der wenigen kostbaren Momente in Isabelles Leben, in denen sie glücklich war und das Glück so stark empfand, daß sie es festhalten wollte. Sie lebte in diesem Augenblick nicht für das Morgen, sie dachte nicht an übermorgen, sie träumte nicht von einer fernen Zukunft: Die Gegenwart spürte sie, die ganze Kraft des Jetzt. Aufheben für schlechte Zeiten, dachte Isabelle, will ich dies Bild von Christin.
Langsam ging sie die Treppe hinauf und nahm den Wohnungsschlüssel unter der Fußmatte hervor. Sie erinnerte sich an Luisendorf und daran, daß ihre Mutter, wenn sie unterwegs war, den Schlüssel des Häuschens unter einem umgedrehten Blumentopf neben der Haustür aufzubewahren pflegte. Sie wollte sichergehen, daß ihr Kind jederzeit hineinkonnte. Immer wieder hatte Ida ihre Tochter ermahnt, im Notfall daran zu denken. Etwas vor anderen verstecken, auf jede bedrohliche Situation vorbereitet sein, Verabredungen treffen, für alle Fälle: von solcher Art waren die Ängste, die Ida an Isabelle weitergegeben hatte. Ängste und Rituale.
Sie schloß auf und betrat das Appartement. Es wirkte abweisend und leer. Die Heiterkeit des Abends, der Zauber der Nacht fielen von Isabelle ab. Plötzlich fror sie, fühlte sich müde, abgearbeitet, einsam. Sie wollte auf den Arm. Sie wollte sich geborgen fühlen. Auf einmal, als sie langsam durch den Raum ging, mußte sie an Jon denken. Was er jetzt wohl machte? Wie es ihm wohl ging? Sie legte sich im Dunkeln auf das Sofa, kuschelte sich an eines der Kissen, träumte sich davon, zu ihm. Dann fielen ihr die Augen zu, und sie schlief ein.
Einige Wochen später hatte der Frühsommer von Paris Besitz ergriffen, und auf der Galeere herrschten Temperaturen, die unerträglich waren. Eine der Perlenstickerinnen war mit einem Kreislaufkollaps hinter ihrem Arbeitstisch zusammengebrochen. Isabelle versuchte sich über die Arbeitsbedingungen zu beschweren, aber es nützte nichts und führte nur dazu, daß man strenger mit ihr wurde.
Im Leben kommt immer alles auf einmal, hatte Gretel oft gesagt, und Ida hatte in diesem Zusammenhang stets behauptet, das Unglück sei ein Triumvirat: «Es kommen immer drei Dinge zusammen.» So war es auch bei Isabelle. Kaum hatte sie im Atelier Rabatz gemacht, tauchte einen Tag später Monsieur Yves Morny auf, in Begleitung Madame Fillettes', seines Pinschers und einer Duftwolke von Jasmin. Letzteres hätte beinahe dazu geführt, daß auch noch die übrigen Arbeiterinnen aus den Latschen gekippt wären. Doch was überwog, war die gespannte Aufmerksamkeit. Tatsächlich war der Couturier noch nie in diesen Räumen gewesen, und unausgesprochen lag in aller Augen die Frage: Warum war er hier? Taten ihm die Mädels leid, wollte er ihre Arbeitsbedingungen verbessern? Wollte er ihnen imponieren, sie einschüchtern, eine mögliche Fortsetzung der Studentenrevolte in seinen Räumen verhindern? Wollte er überprüfen, wie die Arbeit an seinen neuen Entwürfen vorwärtsging?
Er ließ sich von der Direktrice die Abläufe erklären, durchschritt die Räume wie ein Zeremonienmeister bei Hofe, lächelte huldvoll, befühlte seine Kleider, als wären sie seine Babys. Nach der weißen Phase hatte er nun die rote Phase. In diesem Herbst sollten Paris und die Welt erfahren, daß die Haute Couture noch nicht am Boden lag, im Gegenteil, daß das Feuer der Inspiration weitersprühte und alle Zweifel verschlang. Fließend waren die Stoffe, weich die Schnitte, üppig die Stickereien, wie gehabt, und doch ganz anders rot die Pailletten, rot die Perlen, rot wie Blut, rot wie die Liebe.
Isabelle war unaufmerksam an diesem Tag. Sie mußte ständig an Remo denken. Ein paar Tage zuvor war sie mit ihm – zum erstenmal in ihrem Leben – in der Oper gewesen. Und das kam so: Zwei Tage zuvor lag ein Couvert auf der Fußmatte vor dem Appartement. Christin hatte es mit einem Boten geschickt. Es enthielt zwei Karten für eine Aufführung der Mozart-Oper Cosi fan tutte. Dabei lag ein handgeschriebener Brief. Christin bedauerte, daß sie sich so lange nicht mehr bei ihrer Freundin gemeldet habe, und entschuldigte sich dafür. Sie befinde sich in ständigen Vorbereitungen für ihren Umzug
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