Der Seher des Pharao
seinen Erscheinungsformen zeigt es nichts als die Evolution von Bewusstsein, von seinem Anfang bis zu seinem Ende, das eine Rückkehr zu seinem Ursprung ist.
Wie das Unbeschreibliche beschreiben? Wie das Unzeigbare zeigen?
Wie das Unsagbare äußern?
Wie den Unfassbaren Moment greifen?
Wahrlich, wie, dachte Huy erschrocken. Götter, ich bin doch noch ein Junge, ein zwölfjähriger Schüler in der Schule von Iunu, unter der Herrschaft der Maat und des mächtigen Königs Thutmosis, der im gesegneten Land Ägypten lebt. Ich bin ein Nichts! Ein Niemand! Nur die ältesten und weisesten Seher können vielleicht diese Worte verstehen! Mit welchem Recht bin ich hier? Womit habe ich diese tückische Bestrafung verdient? Thot, hab Erbarmen! Die Stimme hatte wieder zu flüstern begonnen, und Huy konnte nun seinen eigenen Namen ausmachen, der mit dem Lied der Blätter verwoben wurde: »Huy, Huy, Huy.«
»Sei still!«, schrie er. Sofort wurde es still. Erbittert beugte er sich über das uralte Schriftstück.
Ehe es einen Gegensatz, Ja und Nein, Gut und Schlecht gab; ehe es eine Ergänzung gab, Hoch und Tief, Licht und Schatten gab, ehe es Gegenwart und Abwesenheit, Leben und Tod, Himmel und Erde gab, gab es nur die eine Unbegreifliche Kraft, allein, einzigartig, dem Nun innewohnend, das unbestimmbare Urgewässer, die Unendliche Quelle des Universums, außerhalb von Raum und Zeit.
Das war ein bisschen leichter. Die eine Unbegreifliche Kraft war offenbar Atum selbst, und jeder wusste, dass vor der Schöpfung der Nun war, der Ort des Nichtseienden.
Ich, Thot, dem verpflichtet, was danach kommt, spreche nun vom Göttlichen Willen Atums mit wenigen Worten, aber mächtiger Bedeutung.
Heil Atum, der vor sich selbst da ist!
Heil dem, der in die Erste Duat eintritt!
Du gipfelst in diesem deinem Namen ›Hügel‹, du wirst dadurch zu deinem Namen …
Huys Kehle war trocken, als hätte er viele Stunden lang einen Text, den sein Lehrer ausgewählt hatte, rezitiert. Sein Kopf hatte zu schmerzen begonnen. Er rollte den Papyrus zusammen und steckte ihn wieder in die Hülle, dann legte er diese in den Kasten und schloss ihn bewusst langsam. Der Widerwille machte seinen Körper steif. Ich werde das nie verstehen, dachte er grimmig. Warum soll es mich kümmern, was die Erste Duat ist oder warum Atums Name Hügel ist, wenn ich doch eigentlich nur mit Thutmosis ringen, an heißen Nachmittagen Bier trinken und Anukets Parfüm riechen will, wenn sie sich über ihre Girlanden beugt? Gebt mir ein Leben, das meine Sinne erfüllt, nicht dieses kalte, unverständliche uralte Durcheinander, das keine Bedeutung für mich hat! Ich wünschte, ich könnte in meine Kammer gehen, Pabast rufen, Wein bestellen und mich gründlich betrinken. Aber noch nicht mal dieser Ausweg steht mir offen. Dafür haben die Götter gesorgt. Oder ein Gott. Zur Ersten und Zweiten Duat mit allem!
Der Wächter vor der Tür antwortete auf Huys lautes Klopfen und entfernte sich. Den Rücken absichtlich zum Isched-Baum gedreht, wartete Huy ungeduldig, bis der Oberpriester ihm die Tür aufschloss. Er drückte ihm den Kasten in die Hand. »Ich kann das nicht!«, schrie er beinahe. »Es ist mir egal, welche Entscheidung ich getroffen habe, eine Entscheidung aus Unwissenheit, ohne dass mir die Konsequenzen klar waren. Oberpriester, das alles geht weit über mein Fassungsvermögen, egal, wie scharf mein Sia ist!«
Ramose tätschelte ihn mitfühlend. »Du bist müde und hungrig, Huy. Geh in deinen Hof. Das Abendessen steht schon bereit. Spiel Senet mit deinem Freund. Wenn du willst, erzähl ihm, was du gelesen hast. Er wird es kaum begreifen, aber du bist die Last vielleicht los.«
»Wie soll ich ihm erzählen, was ich gelesen habe, wenn ich mich an nichts davon erinnere?« Doch plötzlich merkte Huy, dass die Worte noch da waren, dass sie wie ein Kristall im ungeschliffenen Gestein seines Gedächtnisses lagerten. Diese Erkenntnis steigerte seine Verzweiflung noch. Er verabschiedete sich mit einer flüchtigen Verbeugung von Ramose und rannte durch die halbdunklen Gänge zurück in seinen Hof, als wäre ihm Anubis selbst auf den Fersen.
Ihm kam es vor, als hätte er nur ein paar Minuten unter dem Isched-Baum gesessen. Deshalb traf es ihn wie ein Schock, dass die Sonne schon im Untergehen begriffen war und die anderen Jungen für ihr Essen anstanden. Thutmosis wartete mit fragenden Augen auf ihn, aber Huy sagte nur: »Später.« Sie nahmen ihre Teller und Becher und setzten sich
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