Der Seher des Pharao
Bildung, er würde der Bauernsohn aus Hut-Herib bleiben.
Er fand sich in dem Palmenhain an der Südwand des Tempels wieder. Wie er dorthin gelangt war, wusste er nicht. Er entschied sich für den Stamm eines Baumes, der nicht von Sand, sondern von Gras umgeben war, setzte sich und legte das Kinn auf die Knie. Was ist mit Chenti-Cheti?, dachte er schwerfällig. Ist der Gott meiner Heimatstadt bloß Symbol für eine Erscheinungsform von Re? Wenn ich mich vor seiner Statue in meiner Kammer niederwerfe, bete ich dann zu der großen Sonne selbst? Und was ist mit Osiris und Isis, Horus, Hathor – was ist ihr Ursprung? Er warf sich zurück gegen den Stamm und schloss die Augen. »Ich will es nicht wissen«, murmelte er laut. »Ich habe mich sehr wenig um die Angelegenheiten der Götter gekümmert. Sie waren grausam zu mir, haben mir ihre merkwürdigen Pläne, ohne mich zu fragen, übergestülpt, so als zählte ich gar nicht, und jetzt bin ich ihr Gefangener.« Du hattest die Wahl, flüsterte eine Stimme in seinem Inneren. Huy schloss den Mund. Ich habe also gewählt, dachte er aufsässig. Aber das hat nicht zur Folge, dass ich sie liebe oder etwas über sie erfahren will. Ich muss das Buch lesen und verstehen und dabei meine Gefühle für mich behalten, das ist alles. Geben sie mich frei, wenn das geschehen ist?
Am nächsten Tag umgab ihn die ganze Zeit ein Gefühl von Unwirklichkeit. Er erhielt einen scharfen Tadel seines Lehrers wegen Unaufmerksamkeit, hörte zu, ohne zu begreifen, wie der Architekt Ptahmose etwas von lotrechten Linien und Säulenbasen erzählte, aß mittags ohne Appetit. Nur auf dem Sportplatz fand er kurz zu sich selbst. Es machte ihm Spaß, den Bogen zu spannen weil seine Pfeile zunehmend gezielt und nicht bloß wild und unberechenbar durch die Gegend flogen. Später brachte ihn sein Waffenlehrer zu den Ställen, wo eine neugierige Nase über der halben Tür auftauchte, als sie näher kamen. Sanfte braune Augen musterten Huy. »Das ist Fauler Weißer Stern«, sagte der Mann. »Er zieht die Wagen der Anfänger. Er ist, wie sein Name besagt, sehr faul und fällt nur gelegentlich mal in Trab.«
Huy ging zu dem Tier und streichelte den festen, warmen Hals. Plötzlich froren seine Finger ein. »Meister, das Tier hat vom letzten Unterricht her noch einen Stein im Huf, den es entfernt haben will, ehe es wieder eingesetzt wird.«
»Oh ja, der bist du!«, sagte der Mann laut. »Jetzt habe ich dich ein Jahr unterrichtet und das nicht gewusst. He Mesta!«, rief er dem Mann zu, der sich ihnen näherte. »Fauler Weißer Stern hat einen Stein im Huf! Kümmere dich besser darum!«
Mesta gab Huy die Hand. Er war ein kleiner, gut gebauter Mann mit wettergegerbtem Gesicht und einem grau werdenden Haarschopf. Sein Lächeln war unverstellt. »Ich bin der Wagenmeister. Magst du Pferde?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Huy. »Dies ist das erste Pferd, das ich berührt habe. Aber ich mag Esel.«
»Gut. Komm herein, und wir sehen nach, ob dieser faule alte Klepper wirklich einen Stein im Huf hat.«
Huy folgte Mesta in den kleinen Raum. Der Boden war dick mit Stroh bedeckt, und von den beiden Tontrögen enthielt der eine Getreide, der andere Wasser. Gegenüber führte eine Tür auf einen langen Gang, der an beiden Enden offen war. Auf seiner ganzen Länge standen oder hingen Rechen, Eimer, Leinensäcke und Zaumzeug.
Mesta kniete sich hin und griff nach einem der Beine von Fauler Weißer Stern, doch das Pferd verlagerte sein Gewicht und hob das Vorderbein gegenüber. »Also gut!«, rief der Mann verblüfft. »Du arbeitest heute mit mir zusammen, du gottloses altes Schlachtross! Huy – dein Name ist doch Huy? – gib mir das Werkzeug, das dort am Nagel hängt.« Mesta bettete den Huf fachmännisch in seinen Schoß, untersuchte ihn sorgfältig, pfiff überrascht durch die Zähne, nahm das Werkzeug und förderte mit ein paar kurzen Drehbewegungen einen Stein zutage, der ins Stroh fiel. Huy stand neben dem Kopf des Tiers und spürte sein Maul an seiner Brust. »Woher wusste er von dem Stein?«, murmelte der Wagenmeister zu sich selbst. »Der Junge, der dich zuletzt in den Stall gebracht hat, bekommt Schläge, weil er dich nicht ordentlich versorgt hat.« Er stand auf. »Dieses Tier scheint sich recht wohl bei dir zu fühlen«, sagte er zu Huy. »Hast du Angst vor ihm?«
»Überhaupt nicht, Meister.«
»Gut. Wir spannen ihn vor einen der Wagen, und du stellst dich nur hinein, während ich ihn über den Übungsplatz
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