Der Seher des Pharao
was daraus zu lernen ist, musst du für den zweiten Teil in den Süden, nach Chmunu, fahren. Keine Angst, wir werden uns darum kümmern. Der erste Teil umfasst drei Rollen. Möge Atum dich schützen und leiten bei dieser heiligen Aufgabe.« Dann verließ er den Hof mit jenen ausgreifenden Schritten, die Huy mittlerweile so vertraut waren. Huy hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Und einen Moment später näherten sich im Gang die Schritte des Wächters. Der Mann blieb vor der Tür stehen und stellte seinen Speer auf den gefliesten Boden. Huy war allein.
Und doch nicht allein. Lange Zeit saß er, die Hand auf der Lederhülle mit der Eins, bewegungslos da, und es kam ihm zunehmend so vor, als wäre unter dem beständigen Rascheln der Blätter eine ganz leise, murmelnde Stimme zu vernehmen. Natürlich war es gut möglich, dass sie nur der Vermischung seiner eigenen Befürchtungen und Erinnerungen entsprang. Sie war geschlechtslos und machte keine Atempausen, und wenn er sich auf sie konzentrieren wollte, verstummte sie sofort, dann war nur noch das geheimnisvolle Raunen des Baums selbst zu hören. Ich könnte ja vorgeben, dass ich es lese. Ich bin verschlagen genug, um mir jeden Tag irgendeinen hochtrabenden Unsinn für den Oberpriester zusammenzubasteln. Ich möchte diese Fesseln los sein. Doch vor seinem geistigen Auge erschien Anukets zierliches Gesicht, auf dem keusche und vertrauensvolle Bewunderung lag. Mit einem resignierten Seufzer zog er die erste Rolle heraus.
9
Eigentlich hätte der Papyrus brüchig sein und unter Huys Händen zersplittern müssen, doch er ließ sich geschmeidig ausrollen und präsentierte dicht an dicht winzige Hieroglyphen, die so wunderbar geschrieben waren, dass es Huy den Atem raubte. Er hatte seine Schreiberpalette vergessen, und der Oberpriester hatte ihn nicht darauf hingewiesen. Der Papyrus lag auf seinen Knien, ein wenig gestützt durch den Stoff seines Kilts. Er hatte schreckliche Angst, mit dem Lesen zu beginnen, und starrte auf die Mauer gegenüber, auf die bewegten Muster, die die Schatten der Blätter darauf warfen. Doch schließlich zwang er seinen Blick hinunter auf die perfekten Zeichen in seinem Schoß und ließ die ersten Worte auf sich wirken.
Ich, Thot, Besitzer der stärksten Heka-Kräfte, Darbringer des heiligen Geschenks der Sprache an die Menschheit aus meinem eigenen Hu, schreibe diese Geheimnisse auf Geheiß Atums nieder, sodass der, der die Gabe der Weisheit besitzt, lesen und verstehen mag, was der Wille des Heiligen Einzigen ist. Möge der, der dieses Wissen begehrt, Sorge tragen, dass sein Auge gewissenhaft und seine Ehrfurcht unendlich ist. Denn der ohne Sia liest zu seinem Schaden, und der ohne Gewissenhaftigkeit fällt der Zweiten Duat anheim.
Huy hielt inne. Sein Puls hatte wieder den normalen Rhythmus erreicht, und er selbst war ruhig genug, um bereits erstaunt zu sein. Thot benutzt seinen Hu, seine kreative Erscheinungsform, um uns die Sprache zu schenken. Das weiß jeder Schüler. Jeder Schreiber spricht ein Dankgebet für dieses große Geschenk, ehe er den Pinsel auf den Papyrus setzt. Ob ich die richtige Auffassungsgabe habe oder nicht, wird sich zeigen, aber was ist die Zweite Duat? Es gibt doch nur eine, den Schreckensort voller Dämonen, die menschliche Körper und Tier-und Insektenköpfe haben, wo in den Flüssen und Teichen Geister sind. Dort müssen die Toten hindurch, um in das Paradies des Osiris zu gelangen. Hapsefas Stimme klang ihm in den Ohren, er war wieder drei Jahre alt, lag in seinem Bett, und Hapsefa sprach das Nachtgebet für ihn, das seine Mutter meist vergaß – die Bitte um Schutz vor einem Tod, der ihn in das Reich des Blutsäufers aus dem Schlachthaus, des Rückwärtsgehenden vom Abgrund oder gar des Exkrementenfressers stürzen würde. Das erinnerte Huy an die Exorzierung, die die Rechet bei ihm durchgeführt hatte, und er lehnte sich unangenehm berührt gegen die raue Rinde. Dieses Reich ist die Duat. Eine Duat. Doch Thot zufolge gibt es eine weitere. Er wünschte, er hätte an seine Schreiberpalette gedacht und könnte dieses Rätsel aufschreiben. Doch wahrscheinlich würden in diesen kostbaren Papyrusrollen noch viele weitere auf ihn warten, dachte er deprimiert. Er las weiter.
Ich, Thot, Träger der zweiundzwanzig Namen, Bevollmächtigter von Atum, dem, der die Wahrheit vollendet, dem, der die Ewigkeit geschaffen hat, sage Folgendes über das Wesen Atums.
Das Universum ist nichts als Bewusstsein, und in all
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