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Der Seher des Pharao

Der Seher des Pharao

Titel: Der Seher des Pharao Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
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Er zögerte. »Rechet, es gibt eine Frage, die mir der Oberpriester nicht beantworten wollte oder konnte.« Ihre grauen Augenbrauen hoben sich. »Ich habe gehört, dass Seher ihre Sehergabe verlieren, wenn sie ihre Jungfräulichkeit verlieren.« Die Wortwahl war ungeschickt, und er biss sich auf die Lippe. »Ist das wahr?«
    »Bei manchen war das der Fall. Doch bei anderen, den Glücklicheren, nicht. Ramose weiß es also nicht. Willst du dieses Risiko eingehen?«
    »Wenn ich Anuket haben kann, würde ich es eingehen«, sagte er hitzig. »Es ist eine ernste Angelegenheit, den Göttern zu trotzen, aber für ein Leben in ihren Armen würde ich es tun!«
    »Und was dann?« Die Rechet beugte sich vor. »Für alle Ewigkeit in der Duat? Was stellst du dir vor, wie die Götter einen solchen Verrat ahnden? Du kannst nicht in das Schicksal eingreifen und erwarten, dass das keine Vergeltung nach sich zieht.« Ihr Ton wurde sanfter. »Aber du musst dich jetzt nicht mit diesen Dingen befassen. Nutze deine Energie für Bogenschießen und Wagenlenken, und vervollkommne deine Schreibkenntnisse. Wir sprechen später wieder darüber.« Sie rief erneut nach Isis. »Jetzt werden wir essen und dann hier im Schatten ein wenig schlafen. Wie ich sehe, trägst du deine Amulette. Das ist gut. Ich spüre sehr genau, mit welchem Schutz sie dich umgeben, Huy. Die Chatiu-Dämonen schweben darüber, aber ihr böses Verlangen, dich zu zerstören, wird beständig abgewehrt. Sie sind machtlos.«
    Das Mahl war einfach – Gemüsesuppe, Brot und Ziegenkäse – und danach dösten beide im warmen Gras.
    Die Sonne war schon am Untergehen und färbte den Staub rot, als Huy sich von Henenu verabschiedete und auf den Weg zum Tempel machte. Die Obst-und Gemüsehändler auf den Straßenmärkten räumten ihre Stände ab, beladene Esel verstopften die engen Gassen, und in einigen Bierläden flackerten bereits die Lampen. In den Bordellen war noch kein Betrieb. Die Huren, die mit ihren aufwendigen Lockenperücken und den dick mit Kajal nachgezogenen Augen eine seltsame Parodie junger Adeliger darstellten, lehnten teilnahmslos an den Mauern. Huy wurde von ihnen zwar gemustert, aber nicht angesprochen.
    Eine von ihnen erregte trotzdem seine Aufmerksamkeit. Sie trug ein gelbes Kleid, saß auf einem Hocker und hatte das Kinn in die Hand gestützt. Sie schien gedankenverloren und blickte nicht auf, als Huy vorüberging. Sie hatte etwas von Anukets Zierlichkeit, und Huy kam plötzlich der Gedanke, er könnte seine Sehergabe bewusst zerstören, indem er umkehrte und ihre Dienste in Anspruch nahm. Mit ein bisschen Glück wäre er dann für die Götter nutzlos und müsste sich fortan weder um das Buch Thot kümmern noch sich Sorgen um seine merkwürdige Bestimmung machen. Er wäre frei und könnte in der wunderbar namenlosen Menge aufgehen, unbehelligt von Träumen und Vorahnungen als Schreiber arbeiten, heiraten und eine Familie gründen. Mit ein bisschen Glück.
    Er blieb stehen und drehte sich um. Die kleine Hure nahm das Kinn aus der Hand, starrte ihn an und stand auf. Als er einen Schritt in ihre Richtung machte, schob sie einen Träger ihres Kleides von der Schulter, lächelte listig und enthüllte eine unerwartet üppige Brust. Die Einladung war so offenkundig und derb, dass Huy Ekel und Verlangen zugleich verspürte. Es fiel ihm nicht schwer, sich vorzustellen, Anuket stünde hier als jene Göttin der Begierde, der sie ihren Namen verdankte, ihr natürlicher Adel durch die gekünstelte Schüchternheit der Verführung ersetzt. Die junge Frau hob ihre Brust an. Ihr Lächeln wurde breiter, und in Huy gewann der Ekel die Oberhand. Er ging rasch weiter.
    Der neunte Tag von Paophi war sein dreizehnter Namensgebungstag. Seine Eltern, Onkel und Tante schickten ihm Glückwunschbriefe, und er warf sich als Zeichen der Dankbarkeit vor den Türen des Allerheiligsten im Tempel und vor seiner eigenen Chenti-Cheti-Statue nieder. Ein Opfer brachte er jedoch nicht dar. Mit leisem Unmut hatte er beschlossen, den Göttern nicht dafür zu danken, dass sie ihn mit seinem einzigartigen Wesen belastet hatten. Und dass er gesund war, hielt er für selbstverständlich.
    Nachdem er die drei Rollen des ersten Buchteils durchgearbeitet hatte, las er sie noch mehrere Male, bis er hinter den wohltönenden Worten, die er sich jederzeit ins Gedächtnis rufen konnte, ihre Unvollständigkeit erkannte. Das bedeutete, dass er sich jetzt dem zweiten Teil widmen musste. Mehrere Tage lang zögerte er,

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