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Der Seher des Pharao

Der Seher des Pharao

Titel: Der Seher des Pharao Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
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weggenommen, und Mentuhotep schritt eilig zur Tür.
    Huy drehte sich auf dem Hocker zu ihm herum. »Entschuldigung, Meister, gibt es auch eine Rolle mit Erklärungen dazu?« Es gelang ihm nicht, das Flehen in seiner Stimme zu verbergen.
    Der Oberpriester blieb stehen. »Ja, die gibt es. Aber Ramose möchte, dass du erst ein oder zwei Tage über das, was du liest, nachdenkst, ehe ich dir den Kommentar gebe.« Huy entfuhr unwillkürlich ein Seufzer, und Mentuhotep lachte. »Ich weiß, ich weiß! Aber der Grund ist vernünftig. Es ist Atums unmittelbarer Wille, dass du seine Werke verstehst. Deshalb stellen deine Erkenntnisse die Wahrheit dar. Wir wissen nicht, wer den Kommentar schrieb. Auch wenn er voller Weisheit ist, stellt er nicht notwendigerweise die Wahrheit dar. Was, wenn deine Interpretation anders ausfällt? Du darfst nicht beeinflusst werden. Möge Thot dir Mut verleihen.«
    Mut ist nicht das, was ich brauche, dachte Huy resigniert, als sich die Tür schloss und er sich wieder zum Tisch wandte. Er nahm den Beutel. Und wann ist überhaupt aus meiner verfluchten Entscheidung, das Buch zu lesen, ›Atums unmittelbarer Wille‹ geworden? Jetzt wird bereits etwas, das mir ganz allein widerfahren ist, verzerrt, um die geheimen Wünsche meiner Umgebung zu nähren.
    Huy löste die Kordel, zog die Papyrusrolle heraus, öffnete sie vorsichtig und glättete sie auf dem Tisch. Wie zuvor staunte er ob der Geschmeidigkeit des Papyrus und der Schönheit der sorgfältig gemalten Zeichen. Einen Moment lang schloss er die Augen, nahm das Gezwitscher der Vögel in den Bäumen vor dem Arbeitszimmer wahr, roch die immer noch vorhandene Myrrhe und das Kupit – und den Duft, der von dem Papier zwischen seinen Handflächen aufstieg. Der Isched-Baum war viele Meilen entfernt, doch das Aroma seiner Blätter war wunderbar frisch und vertrieb auf der Stelle die Wolke, die Huys Stimmung trübte. Er schluckte und hatte das Gefühl, er könne den Baum auch schmecken, sprach das kurze Gebet der Schreiber zu Thot, öffnete die Augen und begann zu lesen.
    Ich, Thot, Träger der zweiundzwanzig Epitheta, der seinen Schöpfer glorifiziert, halte diese Worte Atums fest. Möge der, der sie liest, sie verstehen und die Tiefe in ihrer Einfachheit bewundern.
    Ich bin Eins, das zu Zwei transformiert.
    Ich bin Zwei, das zu Vier transformiert. Ich bin Vier, das zu Acht transformiert. Ab da bin ich Eins.
    Huy las die Zeilen erneut. Sie waren in der Tat einfach, geradlinig – und entsetzlich unsinnig. Er ging sie noch einmal durch und sprach dabei laut mit, als ob sie eine Bedeutung bekommen könnten, wenn er sie in der warmen Luft hörte. Mit einer Geste, die sowohl Verwirrung als auch Erleichterung beinhaltete, hob er die Hände, ließ den Papyrus sich aufrollen und schob ihn vorsichtig wieder in den Beutel. Die Worte waren bereits fest in sein Gedächtnis eingebrannt. »Ich bin Eins, das zu Zwei transformiert …«
    Er stand auf, verschränkte die Arme und sah aus dem Fenster, das den Blick auf den kleinen Privatgarten des Oberpriesters freigab. Durch das dichte Laub der Bäume konnte er helles Sonnenlicht und einen strahlend blauen Vormittagshimmel erkennen. Wenn die Sonne im Westen steht, wird es sehr heiß im Arbeitszimmer, dachte er unwillkürlich. Vielleicht sollte ich den Vorhang herunterlassen. Ich brauche Wasser. Irgendwo ist sicher ein Krug. »Ich bin Zwei, das zu Vier transformiert …« Er entdeckte das Wasser auf dem Tisch neben der Tür und trank durstig. Was nun?, fragte er sich und begann auf und ab zu laufen. »Ich bin Vier, das …« Das. Das. Atum sagt nicht ›der‹, er sagt ›das‹. »Ich bin Eins, das …«, nicht »Ich bin Eins, der …« Bedeutet das, dass der Gott etwas anderes, nicht sich selbst, von eins zu zwei zu vier zu acht transformiert? Doch zuletzt sagt er »Ab da«, nach den Transformationen, die er gemacht hat, ist er Eins. Nicht »Ich habe mich in Eins zurückverwandelt« oder »Ich bin immer noch Eins«, sondern »Ab da bin ich Eins«. Ist es ein Teil von sich selbst, den er aus einem ungenannten Grund transformiert und dann wieder zu Eins wandelt?
    Doch ›transformieren‹ bedeutet etwas Tiefgreifendes und Dauerhafteres als ›wandeln‹. Transformieren bedeutet eine unumkehrbare Veränderung, bedeutet, für immer etwas anderes zu werden. Atum nahm etwas und transformierte es, indem er es teilte. Atum nahm etwas von sich und transformierte es, weil er es teilen konnte, und blieb doch ein Ganzes. Etwas neben

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