Der Seher des Pharao
ihm und doch Teil von ihm?
Huy hielt inne. Eine vage Erinnerung war in ihm aufgestiegen. Dinge, die er in der Schule nur halb gehört und nicht beachtet hatte. Etwas über Frösche. Frösche? Er lachte laut und ging zur Tür. »Bitte ruf den Oberpriester«, sagte er zu dem hochmütigen Gesicht vor sich, dann schloss er die Tür wieder. Der Frosch war das Symbol der Auferstehung. Aber was konnte die Erneuerung des Lebens mit den exakten Teilungen zu tun haben, die in dem Papyrus angeführt waren? Frösche versinnbildlichten das Leben nach dem alljährlichen Rückgang der Nilschwemme, das Keimen der neuen Saat, neue Eier in den Nestern an den Kanälen, neue Hoffnung auf eine reiche Ernte – aber keine Transformation. Die nicht! Doch die ganze Zeit während des Mittagessens mit den Priestern, während des Nachmittagsschlafs, während des abendlichen Spaziergangs durch den Tempelbezirk und auch noch, als er schließlich schlaflos im Bett lag, wurde Huy den Gedanken nicht los, dass Frösche irgendwie die Erklärung für die Worte waren, die er im Geist permanent wiederholte.
Am nächsten Morgen gingen er und Anhor allein zu den Gemächern des Oberpriesters. Mentuhotep wartete schon auf sie. Nachdem er den Soldaten freundlich gegrüßt hatte, führte er Huy in sein Zimmer, wo die Schatulle bereits wieder auf dem Arbeitstisch stand. »Nun, Huy«, fragte Mentuhotep, »bist du bereit, den Text ein zweites Mal zu lesen?«
»Wenn ich ehrlich bin, Meister, ist das nicht nötig«, antwortete Huy zögernd. »Ich habe keine Schwierigkeiten, den Inhalt der ersten drei Rollen Wort für Wort wiederzugeben. Und diese war leicht.«
»Leicht, sie auswendig zu lernen, vielleicht.« Der Mann sah ihn scharf an. »Aber hast du das Buch Thot so weit schon verstanden? Ist dir die Bedeutung der ersten Aussagen klar?«
»Größtenteils. Ich glaube aber, dass sich die volle Bedeutung erst dann erschließt, wenn man das ganze Buch gelesen hat.« Eigentlich hatte er sagen wollen, ›wenn ich das ganze Buch gelesen habe‹, aber er wollte nicht prahlerisch erscheinen.
Mentuhotep nickte. »Kannst du mir vortragen, was du bisher gelesen hast?« Das war ein Befehl, keine Frage.
Huy versagte es sich, die Hände auf den Rücken zu legen wie ein Schüler, der vom Lehrer aufgerufen wurde, und begann: »Das Universum ist nichts als Bewusstsein, und in all seinen Erscheinungsformen zeigt es nichts als die Evolution von Bewusstsein, von seinem Anfang bis zu seinem Ende, das eine Rückkehr zu seinem Ursprung ist …«
Der Oberpriester ließ Huy nicht aus den Augen. Als er geendet hatte, nickte Mentuhotep. »Weißt du, was ›Evolution‹ bedeutet, Huy?«
»Ich denke, ja, Meister. Einen langsamen Wandel zu etwas Höherem.«
»Ich sehe, du hast gute Lehrer gehabt. Und wenn Atum kraft seines Willens eine Form des Werdens annimmt, ist das – was?«
»Die Erste Duat. Der Ort der Metamorphose.«
Das leichte Lächeln des Oberpriester drückte Zufriedenheit aus. »Gut. Dann ist jedes Werden, das in der Rolle genannt wird, die du gestern gelesen hast, Metamorphose, Evolution oder etwas anderes?«
»Ich weiß es nicht. Sie werden als Transformationen bezeichnet. Sind sie etwas anderes als Metamorphosen und auch Evolutionen?«
»Das musst du entscheiden.« Mentuhotep kam um den Tisch herum. »Ich weiß, dass du gern den Kommentar lesen möchtest. Aber heute noch nicht. Offensichtlich musst du die Rolle nicht noch einmal lesen – es sei denn, es hilft dir bei deinen Überlegungen, wenn du sie vor deinen Augen hast und spürst? Nein? Dann nehme ich sie mit und lasse dich nachdenken. Dafür musst du nicht hier im Zimmer bleiben, aber du solltest dir für die Meditation ruhige Plätze auf dem Tempelgelände aussuchen.«
Huy streckte die Hand aus. »Meister, seit ich gestern diese Rolle gelesen habe, ist es mir nicht gelungen, den Gedanken an … an Frösche aus meinem Sinn zu vertreiben.« Er spürte, wie er rot wurde. »Es klingt verrückt, aber wirst du es mir sagen, wenn ein Dämon der Unwissenheit den Weg in mein Herz gefunden hat und mich in die Irre führt?« Gedemütigt sah Huy, dass Mentuhotep ein Lachen unterdrückte.
»Du bist der Auserwählte, Huy«, sagte er unvermittelt. »Dein Herz ist rein. Erfreue dich an dem Tag, und wenn du morgen immer noch gegen den Wall der Einsicht anrennst, werden wir miteinander sprechen. Nein, ich lache nicht über dich«, fügte er ernst hinzu. »Ich bin nur erfreut, dass alle, die dich beurteilt haben, die
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