Der Seher des Pharao
hohen Mauer. Ein Weile liefen die Freunde wortlos nebeneinander her. Die Nacht war wunderbar, der Halbmond und die Sterne tauchten die Wege in ein graues Licht.
Thutmosis zeigte zum Himmel. »Schau, der Sothis-Stern! Es ist schon merkwürdig, dass er jedes Jahr zu Beginn der Nilschwemme erscheint. Ich halte immer nach ihm Ausschau, aber ich weiß nicht, wann er wieder verschwindet.« Er holte tief Luft. »Ich wünschte, die Schule hätte schon angefangen. Noch drei Monate! Seit ich auch fünfzehn bin, begleite ich Vater bei seinen Verwaltungsterminen und mache Notizen wie die anderen Schreiber. Gelegentlich fragt er mich auch nach meiner Meinung zu einem Streit zwischen Bauern oder einer politischen Anordnung für den Sepat, die von dem Einen in Weset kommt. Ich lerne, Regent zu sein.«
Huy betrachtete seine Füße, die wie fremde Wesen über den aschefarbenen Weg schritten. »Du wirst ein wunderbarer Fürst sein, wenn Nacht stirbt. Du hast alle dazu nötigen Eigenschaften, Thutmosis. Du bist ehrlich, intelligent, kannst einsichtig sein, wenn es nötig ist, und vor allem liebst du unser Land. Ägypten bedeutet dir alles.«
»Und mein geliebter König, der Mächtige Stier«, ergänzte Thutmosis leidenschaftlich. »Ja, ich glaube, es ist gut, dass ich mich bei Vater auf die Regentschaft vorbereiten kann. Weißt du schon, was du tun willst, Huy? Willst du deinen Lebensunterhalt als Seher verdienen?«
»Nein!«, entgegnete Huy scharf. Dann wurde er weicher. »Ich weiß nicht, was ich tun will, Thutmosis, aber ich weiß, was ich nicht will. Ich will nicht für andere in die Zukunft schauen. Ich möchte ein vollkommen langweiliges normales Leben haben!«
Sie waren an der Pforte zu den Anlegestufen angelangt, grüßten die Wache, schlüpften hinaus, setzten sich auf die oberste Stufe und beobachteten, wie das dunkle Wasser unter ihnen vorbeiwirbelte. Schließlich schnitt Huy das Thema an, das ihn die ganze Zeit beschäftigt hatte. »Thutmosis, stimmt etwas nicht mit Anuket?«, fragte er zaghaft. »Ich dachte, ich kenne euch alle gut. Ich habe Anuket schon öfter gesehen, wenn sie viel Wein getrunken hat. Normalerweise ist sie dann nur noch stiller als sonst, sitzt noch gerader, und dann schläft sie ein. Heute Abend war sie wie … wie …«
»Wie eine eifersüchtige Geliebte?«, ergänzte Thutmosis. »Wirklich, Huy, manchmal bist du ziemlich begriffsstutzig. Das Reremet hat das ausgelöst. Seit Jahren, wirklich Jahren, bist du in sie verliebt, begehrst sie oder was auch immer. Jeder im Haus weiß das. Du hast sie so lange angeschmachtet, dass sie sich nicht mehr vorstellen konnte, dass du dich für eine andere interessieren könntest.« Er lachte. »Meine egoistische kleine Schwester war selbstgefällig geworden. Du musst zugeben, dass es Zeiten gab, wo sie mit dir gespielt hat, wo sie ihre Macht, dich in Erregung zu versetzen, ausprobiert hat, ohne wirklich daran zu denken, wie du dich fühlen könntest.«
»Ich habe mich wirklich manchmal gefragt, ob ich gefoppt werde«, sagte Huy. Seine Worte waren ruhig, aber sein Herz hatte zu schmerzen begonnen. »Anuket ist unschuldig und bescheiden. Sie hat die Zurückhaltung ihrer Abstammung.«
»Mag sein. Aber sie entwickelt auch die unschönen Ränke und Tricks ihres Geschlechts«, wandte Thutmosis ein. »Und wer eignet sich besser, die auszuprobieren, als der junge Mann, dessen Bewunderung so unablässig ist, auch wenn er das zu verbergen sucht? Sie mag dich wirklich, Huy. Ich meine, schau dich an! Groß, gutaussehend, gebildet und obendrein nett. Zudem hast du eine wahrhaft exotische Vergangenheit. Und du bist, ach, so treu! Heute Abend wurde ihre Selbstgefälligkeit erschüttert. Sie war gezwungen, dich von einem Moment auf den anderen mit anderen Augen zu betrachten.«
»Willst du damit sagen, dass sie eifersüchtig war?«
Thutmosis blickte Huy an, und zum ersten Mal sah Huy ihn, wie er tatsächlich war, nicht mehr der magere großäugige kleine Junge der Kindertage, sondern ein schlanker, gelassener junger Adeliger, dessen Impulsivität zu Selbstvertrauen und dessen naiver Eifer zu kluger Wahrnehmung gereift waren. »Vielleicht«, antwortete Thutmosis und breitete die Arme. »Vielleicht hat sie heute Abend gemerkt, wie tief ihre Gefühle für dich sind. Vielleicht war es aber auch nur Besitzgier. Auf alle Fälle wird Vater sie morgen für ihr Benehmen hart bestrafen.«
Sie verstummten, und plötzlich tauchte Ischats Bild so klar vor Huys geistigem Auge auf, als
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