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Der Seher des Pharao

Der Seher des Pharao

Titel: Der Seher des Pharao Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
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das Königreich. Thutmosis hatte vierundfünfzig Jahre auf dem Horus-Thron gesessen und sein achtzigstes Lebensjahr überschritten. Manchen war er tatsächlich unsterblich vorgekommen, ein Gott auf Erden und ein großer Feldherr, der in seiner Jugend ein Imperium für sein Land erobert und dann in Friedenszeiten ein Ägypten regiert hatte, das im Wohlstand der Tributzahlungen der neuen Vasallen schwelgen konnte.
    Während der siebzigtägigen Trauerzeit für den Osiris-Gleichen war die Schule in Iunu geschlossen. Wieder wanderte Huy durch die leeren Gänge und Räume, diesmal begleitet von den düsteren und scheinbar endlosen Klageliedern, die die Priester im inneren Tempelhof für den toten König sangen. Die Meldung vom Tod des Pharao hatte die beiden jungen Männer im Morgengrauen erreicht. Sie waren bereits wach gewesen und hatten schlaftrunken miteinander geredet, als die Stimme des Herolds im Hof erklang. Wie die anderen stürzten sie ungekämmt hinaus auf den Rasen. Ungläubiges Schweigen folgte auf die Mitteilung. Huy blickte zu Thutmosis hinüber und sah, dass der Freund blass geworden war. »Das kann nicht sein!«, flüsterte Thutmosis. »Er war nicht einmal krank. Das hätten wir doch gewusst!«
    »Er war sehr alt«, sagte Huy unbeholfen. »Viele Leute wurden während seiner Regierungszeit geboren, lebten und starben, ohne einen anderen König zu haben. Er ist gegangen und wird mit den anderen Göttern in der heiligen Barke sitzen, Thutmosis. Du darfst nicht um ihn trauern.«
    Tränen rollten über Thutmosis’ braune Wangen. »Ich muss sofort nach Hause. Ich muss meine blaue Trauerkleidung anlegen, Erde auf mein Haupt streuen und zu ihm beten, denn gewiss muss ein so mächtiger und wohltätiger Gott gar nicht erst in der Halle der beiden Wahrheiten freigesprochen werden.«
    Huy musste an diesen Ort denken, an die Böen, die ihn durchzogen, an das gelegentliche Glitzern der Waagschalen im schwachen Licht. Erneut spürte er den heißen Atem von Anubis in seinem Nacken. »Ist dies Wirklichkeit, kleiner Huy, oder ist es Illusion?«, fragte der Gott. Um die Vision abzuschütteln, legte Huy den Arm um Thutmosis. »Die Fürsten der Sepats werden zur Grablegung geladen werden«, sagte er. »Du wirst nach Süden, nach Weset reisen, Thutmosis, und kannst zusehen, wie dein Vorbild über den Fluss zur Stätte der Toten gebracht wird. In welchem geheimen Felsen ist wohl sein Grab vorbereitet worden?«
    Thutmosis schnäuzte sich in den Schurz, den er zur Bedeckung seiner Blöße gegriffen hatte. »Es wird Ende Epiphi sein, wenn sich der Leichenzug formiert«, sagte er mit belegter Stimme. »Die Ernte wird halb beendet sein, und dann ist nur noch ein Monat Schule, bevor die Nilschwemme kommt. Ich frage mich, ob der Oberpriester nicht gleich den Unterricht bis zum nächsten Tybi aussetzt. Das ist gut möglich. Die Krönung des Falken-im-Nest wird bald nach der Grablegung seines Vaters gefeiert werden.« Er lächelte Huy unter Tränen an. »Ich weiß von ihm nicht mehr als den Namen. Ist das nicht schlimm, Huy? Meine Verehrung hat sich einzig auf den Gott beschränkt, dessen Namen ich trage. Ich muss meine Sachen packen.«
    Und ich sollte eigentlich nach Hut-Herib fahren, dachte Huy düster. Bis zum nächsten Tybi sind es noch über sieben Monate. Und ich bin dann bereits sechzehn geworden. Muss ich dann bis zu meinem siebzehnten Geburtstag in der Schule sein? Was soll ich hier in den sieben Monaten tun? Thutmosis war schon wieder in die Kammer gegangen, und Huy folgte ihm bedrückt.
    Am Morgen nach der Grablegung des Königs ließ der Oberpriester Huy rufen. Es war die dritte Woche von Epiphi. Überall wurde das goldfarbene Getreide gemäht, in Tausenden von Gärten wurden Kohl, Knoblauch, Zwiebeln, saftige Gurken und dicke gelbe Melonen geerntet und die Rebstöcke von der Last ihrer staubigen dunkelroten Trauben befreit. Festbesucher schlemmten frische Feigen und Datteln oder winzige Johannisbeeren und Maulbeeren. Granatäpfel waren gleichfalls begehrt, und Köche hielten sich duftende Johannisbrotschoten, die aus Retenu importiert worden waren, genüsslich unter die Nase, ehe sie sie in ihre Gerichte taten.
    Die Sommerhitze gegen Ende von Schemu und zu Beginn von Achet hatte eingesetzt, und Huy geriet auf dem Weg zu Ramoses Gemächern ins Schwitzen. Der Oberpriester, der sich erhob, um Huy mit seiner üblichen Freundlichkeit zu begrüßen, war kein bisschen erhitzt. Sein langes weißes Gewand war fleckenlos und seine

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