Der Seher des Pharao
ist, dem Gott, der gerade dabei ist, den Horus-Thron zu besteigen, ein unschätzbarer Ratgeber sein kannst«, antwortete Ramose unverblümt. »Missversteh mich nicht, Huy. Ich habe nicht vor, Ägypten durch dich zu beherrschen. Das wäre wahrhaft böse. Aber durch dich kann der Wille der Götter dem Pharao direkt übermittelt werden. Das ist, so glaube ich, deine Bestimmung.«
»Das mag wahr sein oder auch nicht«, begann Huy vorsichtig. »Solche Überlegungen gehören in eine spätere Zeit. Ich bin mir zutiefst dessen bewusst, was ich dir verdanke, Meister. Und ich denke, ich habe dein Vertrauen nicht missbraucht oder enttäuscht. Aber ich würde den Tempel gern verlassen und mir woanders ein Auskommen suchen. Ich brauche eine Veränderung. Du hast mir großartige Kenntnisse als Schreiber zukommen lassen. Ich möchte sie in den Dienst eines säkularen Hauses stellen.« Er spreizte die Hände. »Im Tempel werde ich tagtäglich daran erinnert, was mir widerfahren ist. Ich würde eine Zeit lang gern ein normaleres Leben führen.« Huy wusste, dass er die Worte, die diesen guten Mann beunruhigen und verletzen würden, nicht aussprechen durfte: Ich möchte heiraten. Ich will Anuket. Ich möchte, dass Nacht mir eine Stellung gibt, sodass meine Kindheit wirklich in der Vergangenheit verschwindet.
»Ich weiß. Aber ich weiß nicht, ob das das Beste für dich ist«, sagte Ramose leise, stand auf, kniete vor Huy und nahm seine Hände. »Geh ins Badehaus, und lass dich von einem Diener waschen. Danach ruh dich aus. Denk nach über das, was ich dir gesagt habe, frage dich, was du Ägypten schuldest. Morgen früh nimmst du dann deine Palette und gehst in den Unterrichtsraum. Deine Lehrer erwarten dich dort. Besuch die Rechet, wenn du möchtest, aber versuch dir keine Sorgen zu machen.«
Huy zog seine Hände weg. »Ich schulde dir und der Rechet unendlich viel«, räumte er ein. »Ich möchte nicht undankbar scheinen. Doch ist es so falsch, sich ein Leben außerhalb dieser Mauern zu wünschen? Kann ich Ägypten nicht jenseits des Heiligen Sees genauso gut dienen, wie das auch meine Klassenkameraden tun?«
Er ging nicht ins Badehaus, sondern warf sich in seiner Kammer auf das Bett, rollte sich zusammen und zog die Knie ans Kinn. Ich schulde Ägypten nichts. Nichts! Mein Vater ächzt und schwitzt für jede Schüssel Linsen, die meine Mutter ihm vorsetzt. Der Sohn eines ägyptischen Aristokraten hat mein Leben ruiniert. Ich verdanke meine Anwesenheit hier im Re-Tempel einzig der Güte des Oberpriesters. Ich habe hart gearbeitet in der Schule, damit ich bestehe und nicht ehrlos in die Bauernstadt zurückgeschickt werde. Ich schulde niemandem etwas. Das Selbstmitleid machte zunehmend Ärger Platz. Huy drehte sich auf den Rücken und faltete die Hände hinter dem Kopf. Ich lasse mich nicht benutzen, schwor er sich. Weder von Ramose noch von Henenu, und noch nicht einmal von dir, großer Atum. Ich werde den Rest meiner Ausbildung absolvieren und dann diesem Ort den Rücken kehren. Er schlief nicht, sondern starrte blind die weiße Decke über sich an, bis die Sonne im Zenit stand und die Luft vor Hitze flimmerte.
Der Oberpriester hatte offenbar alle Vorkehrungen getroffen, ehe er mit Huy sprach, denn als Huy am nächsten Morgen in den Unterrichtssaal kam, erwarteten ihn sein Lehrer, der Architekt, der General, der ihm Militärwesen und Taktik beibringen sollte, sowie sein Waffen-und Wagenmeister. Huy verbeugte sich vor ihnen.
»Wir haben ganze drei Monate, um die verlorene Zeit aufzuholen«, erklärte der Lehrer ohne Umschweife. »Du bist befähigt, die Schule mit den höchsten Weihen und besten Zeugnissen von uns zu verlassen, Huy, wenn du dich ausschließlich auf die Arbeit konzentrierst. Ich bin sicher, du möchtest nicht ein weiteres Jahr hier eingesperrt sein!« Er strahlte Huy an, und die anderen lachten.
Sie wissen es nicht, dachte Huy und lächelte höflich zurück. Ramose hat ihnen nicht gesagt, dass er vorhat, mich hier lebenslang einzusperren. Sie glauben, sie tun dem Auserwählten einen Gefallen. Oh, Götter! Wie kann ich mit fünfzehn schon lebensmüde sein?
»Ich bin in der Tat darauf vorbereitet, hart zu arbeiten, Meister«, erwiderte er. »Sag mir, wie du dir meinen Tagesablauf vorstellst.«
Der Mann schaute auf die Wachstafel auf dem Tisch vor sich. »An den Vormittagen werden wir beide dein Pensum an Geschichte, Geografie, Mathematik sowie der religiösen und weltlichen Ordnung Ägyptens in Vergangenheit und
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