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Der Seher des Pharao

Der Seher des Pharao

Titel: Der Seher des Pharao Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
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Gegenwart durchgehen. Du wirst lernen, was einen guten Schreiber ausmacht – das Thema hatten wir noch nicht im Unterricht. Du nimmst Diktate auf. Und abends wirst du das Diktierte auswendig lernen, um es am nächsten Tag zu festigen. Am frühen Nachmittag arbeitest du mit dem Architekten. Du hältst keinen Nachmittagsschlaf. Stattdessen lernst du mehr über die Verwaltung unserer Armee und unserer Flotte sowie gute Militärtaktiken. In den kühleren Stunden gehst du auf den Sportplatz und widmest dich Bogen, Schwert, Speer und Wagen.« Er sah mit erhobenen Augenbrauen auf. »Hast du noch Fragen?«
    »Nur eine, Meister. Ich esse abends oft im Haus meines Freundes Thutmosis. Darf ich das weiterhin tun?«
    »Ich setzte meine Erlaubnis dafür aus, bis ich deutliche Fortschritte bei dir feststellen kann«, antwortete der Mann. »Lass uns anfangen. Wo ist deine Palette?« Die anderen Männer verließen den Saal.
    »Ich habe nicht damit gerechnet, dass der Unterricht schon heute beginnt«, sagte Huy lahm. »Ich hole sie sofort.«
    Der Lehrer setzte sich bereits auf einen Stuhl neben dem Korb, der seine Schriftrollen enthielt. »Mach das. Und beeil dich – die Zeit vergeht.«
    Während des ersten Monats fiel Huy jeden Abend mit schmerzendem Rücken und brummendem Kopf erschöpft auf sein Bett, und jeden Morgen musste er die Fetzen seiner Willenskraft aufsammeln und aufs Neue zu dem festen Entschluss verweben, die Erwartungen seiner Lehrer zu übertreffen. Es war nicht so, dass ihm das Lernen und Auswendiglernen schwerfiel. Im Gegenteil, vieles von dem, was man ihm beibrachte, faszinierte ihn. Etwa das Netz der Handelswege, das Ägypten mit den unterworfenen Ländern und dem Rest der zivilisierten Welt verband, die Konstruktion von Steinbauten, die sich erheblich von solchen aus Lehmziegeln unterschied, der Einsatz von Stoßtruppen oder Schiffsbau. Es war, als würde er das Wissen jetzt in einem Tempo aufsaugen, das an die Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit reichte und seinen Geist und seine Muskeln überanstrengte.
    Mit Beginn des zweiten Monats nahm das Tempo noch zu, obwohl es so heiß war, dass Mensch und Tier alle Willenskraft verloren. Doch Huy war in Fahrt gekommen. Er verschwendete keinen Gedanken an die bevorstehende Nilschwemme. Er schlief tief, schnell und traumlos. Doch als die Fakten, Zahlen, Gleichungen und Gedanken immer vielschichtiger wurden, beschlich ihn der Verdacht, dass man ihn hier weit mehr lehrte, als der normale Schulabschluss verlangte. Er erinnerte sich an Ramoses’ Bemerkung, Ratgeber des Gottes auf dem Horus-Thron zu sein, aber er hatte weder die Zeit noch die Kraft, sich damit zu beschäftigen. Seine Tutoren waren allgegenwärtig, keine Stunde verging ohne ihre Anwesenheit. Huys Körper schmerzte nicht mehr, und er fühlte sich auch als Herr seines Geistes, aber am Ende des Tages war er zu ausgelaugt, um seine Gebete zu sprechen.
    Am Ende des zweiten Monats bekam er die Erlaubnis, einen kostbaren Abend in Nachts Haus zu verbringen. Sofort schickte er einen Diener los, der anfragen sollte, ob er eine Mahlzeit mit der Familie einnehmen könnte. Einige Stunden später kam der Mann zurück und verbeugte sich. »Der edle Nacht freut sich sehr, Meister Huy am ersten Tag von Paophi zu empfangen«, lautete die Antwort, und plötzlich wurde Huy die Welt außerhalb der Mauern bewusst. Der Monat Thot war gekommen und vergangen. Isis hatte zu weinen begonnen, und das Land hatte das Ansteigen des Flusses mit der üblichen Inbrunst gefeiert. Feuchtigkeit erfüllte die Luft, und mit ihr kamen Wolken von Kriebelmücken und anderen Stechmücken. Das Große Erscheinungsfest des Osiris am zweiundzwanzigsten Tag von Thot war auch schon vorüber. Jetzt war der dreißigste Tag von Thot, und morgen würde der erste Tag von Paophi, seinem letzten Schulmonat, sein. Am neunten Paophi würde sein sechzehnter Geburtstag kommen. Huy holte tief Luft, als er in der Morgendämmerung in seiner Kammer aufstand. Es war Zeit, mit Nacht zu sprechen.
    Trotzdem ging er merkwürdig zögerlich zu seiner Kleidertruhe. Er wusste, dass er einen seiner besten Schurze brauchte, einen von denen, die Nascha ihm geschenkt hatte. Aus dem Hemd, das Hapsefa ihm genäht hatte, war er seit vielen Jahren herausgewachsen, aber er besaß eine weiße Tunika aus gutem Leinen, die einer der Priester nicht mehr benötigt hatte. Er musste seine langen Haare waschen, ölen und flechten, seine Augen mit Kajal nachziehen und seine Füße in jene Sandalen

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