Der Seher des Pharao
seinen so ähnlich waren und ihn furchtlos ansahen. »Wer bist du?«, fragte Heby schließlich. »Warum starrst du mich so an?«
»Ich bin dein großer Bruder Huy«, begann er, aber das Kind hatte sich an die Wand gedrückt und die Fäuste geballt.
»Nein, das bist du nicht«, sagte es laut. »Mein Bruder Huy lebt im Re-Tempel in Iunu, weit, weit weg. Mutter! Komm schnell! Ein fremder Mann ist im Haus!«
»Pst, Heby, weck sie nicht auf«, mahnte Huy voll Panik. Darauf bin ich nicht vorbereitet, dachte er, als er Geräusche von jenseits des Flurs hörte. Das ist nicht das langsame, ruhige Wiedersehen, das ich mir vorgestellt habe. Das hier habe ich nicht unter Kontrolle. Er stand unschlüssig da, den Lederbeutel in seiner Hand hatte er vergessen.
»Beeil dich, Mutter!«, rief Heby. »Und bring Vater mit. Der Mann sieht stark aus!« Obwohl er mit angezogenen Beinen an der Wand kauerte, war keine echte Angst in Hebys Augen.
Schritte kamen den Flur entlang. Huy riss sich zusammen und schob die Tür weiter auf. Itu stand dort in einem Kleid, das sie sich offenbar hastig übergestreift hatte. Ein Träger war unter den Arm gerutscht, ihr Haar war ungekämmt, und die Augenlider waren vom Schlaf geschwollen. Doch ihr Blick war wach. Hinter ihr eilte Hapu herbei und schloss im Laufen seinen Schurz. Beide starrten Huy verwundert an. Huy roch das vertraute Lilienparfüm der Mutter und entspannte sich. »Mutter, ich bin’s, Huy«, sagte er heiser. »Die Haustür war offen. Es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Ich …«
Weiter kam er nicht. Mit einem Freudenschrei warf sie die Arme um ihn und presste ihn an sich. »Mein Huy, mein Huy, mein Sohn«, rief sie, die Stimme gedämpft durch Huys Schulter. »Bist du das wirklich?« Huy spürte, wie seine Haut nass wurde. Sie weinte. »Bist du wirklich da? Aber es kam kein Brief. Du hast nicht geschrieben …«
Huy machte sich los und küsste sie. Sie hatte sich kaum verändert, fand er. Ein paar Falten waren in ihrem zarten Gesicht hinzugekommen, und ihre langen Haare waren an den Schläfen von grauen Fäden durchzogen. Aber sie war immer noch schön, diese Frau, deren Liebe und Vertrauen zu ihm nie gewankt hatten. Sie packte seinen Arm, als er sich zu seinem Vater umdrehte. Hapu lächelte argwöhnisch.
»Ich habe dich kaum erkannt«, sagte er. »So groß und so gutaussehend! Also besuchst du uns endlich. Willkommen.« Sein Blick pendelte zwischen Huys Gesicht und dem Sa auf seiner Brust. Huy konnte die Fragen in seinen Augen und tiefer darunter auch ein klein wenig Groll erkennen. Oder war das die alte Furcht, die den Bruch zwischen ihnen ausgelöst hatte?
Er streckte die Hand aus. »Ich freue mich sehr, dich wiederzusehen, Vater. Schön, dass du dich nicht verändert hast.« Aber er hatte sich verändert. Hapu nahm die angebotene Hand, und Huy sah, wie gebeugt er inzwischen war und wie sehr die Muskeln an seinen Armen und auf der Brust hervorstanden. Mitleid ergriff ihn. Das passiert mit dem Mann, der sein Leben mit harter Arbeit verbringt, dachte er traurig. Mein Vater Hapu, so stark und so kraftvoll, wird allmählich missgestaltet. Im Alter werden seine Gelenke schmerzen und seine Hände ihm nicht mehr gehorchen.
»Aber ich habe mich verändert«, antwortete Hapu. »Das weiß ich. Und du hast dich auch verändert.« Er sah seinen Sohn eingehend an und grinste plötzlich. »Götter, dein Anblick kann einen stolz machen! Warte, bis Ker deinen herrlichen aristokratischen Tonfall hört! Dein Schulbesuch war ein triumphaler Erfolg, nicht wahr? Itu, zieh dich richtig an und ruf Hapsefa. Heute Abend trinken wir Wein statt Bier, und es gibt ein Festessen.«
Ein empörter Aufschrei kam vom Bett. Heby schlängelte sich herunter und drängte sich zwischen Hapu und Huy. »Ich bin dein Sohn!«, rief er und zog Hapus Hand weg von Huy. »Heb mich hoch, Vater, und sag dem Mann, wer ich bin!«
Hapu lachte und nahm Heby auf die Schultern. »Du bist mein kleiner Heby, und das ist dein Bruder, der große Huy. Du musst ihn respektvoll behandeln.« Huy sah den feindseligen Blick des Jungen.
»Ich bin der große Heby«, verkündete das Kind und hielt sich an den Haaren des Vaters fest. »Ich gehe in die Schule. Ich gehe in eine viel bessere Schule als Huy. Ich mache all meine Aufgaben ohne Fehler.«
»Tust du nicht, du Kind Seths«, sagte Hapu nachsichtig. »Komm runter jetzt. Wenn Hapsefa da ist, wirst du gewaschen und bekommst Milch. Danach kannst du mit den Katzen spielen. Huy,
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