Der Seher des Pharao
Eltern können es sich leisten, ihre Söhne so lange hierher zu schicken. In diesen Häusern leben nur Söhne von Adeligen. Die haben ihre eigenen Diener.«
Schon der kommende Monat erschien Huy wie eine Trockenzeit, die nie in die Überschwemmungszeit und dann in den Winter übergehen würde. Er versuchte sich vorzustellen, wie lang zwölf Jahre wären, und gab schaudernd auf. Er hoffte, dass Onkel Ker nicht so viel Geld hätte, ihn für solch eine Ewigkeit auf die Schule zu schicken.
Die Schule selbst bestand aus einem einzigen, riesigen Saal. Er war fast leer, nur an einer Wand stand eine Reihe von Körben mit Keramikscherben, und ein langer Tisch war voll mit Papyrusblättern, Schreiberpaletten, Tuschegefäßen und Pinseln. An einer Seite stand eine Staffelei mit einer weiß gekalkten Tafel. »Die Schriftrollen sind zu kostbar, um sie hier aufzubewahren«, sagte Harnacht. »Der Lehrer bringt sie jeden Morgen aus dem Lebenshaus mit.« Huy verstand nicht, wovon er sprach. Der Saal mit seinem Keramikstaub und dem leicht modrigen Geruch von frischem Papyrus schüchterte ihn ein, obwohl viel von der späten Nachmittagssonne durch die großen, hohen Fenster hereinfiel.
»Nach dem Unterricht gehen wir direkt in den Speisesaal, hier entlang.« Harnacht ging zu einem breiten, offenen Durchgang, und Huy folgte ihm und versuchte im Geiste, den Rückweg zu ihrer Kammer zu finden. Der angrenzende Raum war wesentlich freundlicher: Mehrere lange Tische samt ebenso langen Sitzpolstern zu beiden Seiten. »Die Lehrer haben ihre eigenen Tische«, erklärte Harnacht. »Sie trinken Wein zum Essen. Das tun auch die älteren Jungen. Wir bekommen manchmal Bier, aber ihr Kleinen trinkt immer Milch. Manchmal speist der Oberpriester mit uns, dann sind die Tische voll mit Blumen. Seine Anwesenheit ist eine große Ehre.« Huy hörte Gesprächsfetzen und Geschirrgeklapper, die ihren Ursprung jenseits der hinteren Wand hatten. Hinzu kam der leicht unangenehme Geruch von gekochtem Fisch und der vielversprechende nach etwas Süßem. »Hinter der Küche sind die Ställe und Verschlage für die Tiere, die die Priester und wir essen«, fügte Harnacht hinzu. »Und dahinter kommen die Parzellen, auf denen unser Gemüse wächst. Uns ist es jedoch nicht erlaubt, uns jenseits dieser Tür aufzuhalten«, er zeigte dahin, von wo die Küchengeräusche kamen. »Manche von uns stehlen sich nachts, wenn wir vor Hunger nicht schlafen können, in die Küche.«
Die Bemerkung alarmierte Huy. »Bekommen wir nicht genug zu essen?«, wollte er wissen.
Harnacht lächelte nachsichtig auf ihn herab. »Das Essen ist gut und ausreichend. Doch wenn du so alt wie ich und im Wachsen bist, brauchst du manchmal ein oder zwei Mundvoll zusätzlich. Außerdem macht es Spaß, im Dunkeln herumzuschleichen.« Der Meinung war Huy ganz und gar nicht. »Jetzt zeige ich dir noch die Zielscheiben, und dann musst du dich allein vergnügen. Ich habe vor dem Abendessen Bogenschießen, und wenn wir uns nicht beeilen, komme ich zu spät. Ich habe keine Lust auf Schläge.«
Kurz vor dem Tor zum inneren Tempelhof stieß Harnacht eine Tür in der Außenwand rechts von ihnen auf, und Huy stand geblendet im Sonnenlicht, das schon ein wenig vom weichen Rot des Sonnenuntergangs hatte, der noch ein paar Stunden entfernt war. Harnacht lief zielstrebig zu der Lehmziegelmauer, die den gesamten Tempelbezirk außer am See und beim Pylon umgab, und führte Huy durch eine hölzerne Pforte. Sie kamen in einen weitläufigen Bereich, der an einer Seite von Ställen begrenzt war. Huy hörte das Gewieher der Pferde und nahm ihren beruhigenden Geruch war. Am anderen Ende standen mehrere flache Gebäude unter einer unregelmäßigen Baumreihe. Und mitten auf dem staubigen Platz war eine Reihe von Strohballen mit Zielscheiben aufgestellt. Eine Gruppe von Jungen mit Bögen über den Schultern und Köchern in den Händen wartete daneben. Ein Mann trat aus einem der Gebäude und kam näher. Huy beobachtete ihn fasziniert. Er hatte noch nie einen echten Soldaten gesehen. Der Mann trug einen schlichten Lederhelm, Lederhandschuhe und eine Art Lederschürze, die seine breite Brust bis zu dem gefältelten Schurz bedeckte. Vor Huy stieg das Bild seiner Spielzeugsoldaten auf. Er war wieder zu Hause im Garten, hockte im Gras mit dem blau behelmten König in der Hand, der jeden Moment losspringen würde, um den Feind zu vernichten, der im Gebüsch rumorte. Dieser Feind entpuppte sich oft als Scharfklaue, Ischats Katze,
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