Der Seher des Pharao
doch Huy, König Thutmosis und all seine Männer konnten sie immer in die Flucht schlagen.
Der Mann brüllte die Jungen kurz an, die ihre Bögen herunternahmen und sich verteilten. Harnacht knuffte Huy. »Zurück durch die Pforte. Bis später«, zischte er. »Ich habe noch nicht mal meine Ausrüstung.« Er rannte so schnell zu dem Lehrer, dass seine Sandalen weiße Staubwölkchen aufwirbelten. Huy wäre gern geblieben, um zu sehen, wie die Pfeile in die Zielscheiben drangen, hauptsächlich aber, um den Mann zu beobachten, dessen brauner, muskulöser Körper so viel Zuverlässigkeit und Kraft ausstrahlte.
Huy fand ohne große Schwierigkeiten zurück. In der Kammer war es kühl, und Huy packte endlich seine wenigen Habseligkeiten aus. Das Nefer-Amulett legte er sich um den Hals, und das Zedernkästchen mit dem kostbaren Skarabäus stellte er auf den Tisch neben seinem Bett. Doch dann zögerte er. Harnacht würde sicher wissen wollen, was sich darin befand. Und er würde es vielleicht allen erzählen. Es könnte sogar gestohlen werden. Nach einer letzten, liebevollen Berührung des glatten, goldenen Rückenschilds schloss er das Kästchen und stellte es zusammen mit den Sachen, die seine Mutter und Hapsefa eingepackt hatten, in die Kleidertruhe.
Seufzend schob der Junge die leeren Lederbeutel unter sein Bett, zog die Sandalen aus, hockte sich auf den Boden und holte die Kegel und Spulen des Senet-Spiels heraus, das sein Vater so wunderbar für ihn gemacht hatte. Er begann ein Spiel gegen sich selbst.
Der Sonnenuntergang war näher gerückt, als Harnacht müde und staubig zurückkehrte.
Huy fragte ihn, ob er geschlagen worden sei, weil er zu spät gekommen war. Harnacht grinste Huy an. »Nein. Mein Lehrer hat dich gesehen und meinen Auftrag erkannt. Ich habe heute meist ins Schwarze getroffen. Wenn du ausgepackt hast, nimm dir einen frischen Schurz und ein Lendentuch und zieh deine Sandalen wieder an. Wir müssen uns vor dem Essen waschen. Dieses Senet-Brett ist wirklich schön. Kann ich später mit dir spielen?«
Huy war entzückt über das Angebot auf Augenhöhe, doch die Aussicht auf noch mehr Schrubberei stieß ihn ab. Aber er tat wie ihm geheißen, und gemeinsam gingen sie in das Badehaus, das jetzt ziemlich voll war. Es war das Privileg der älteren Jungen, sich zuerst bei Wasser und Soda zu bedienen. »Lass deinen schmutzigen Schurz einfach liegen«, erklärte Harnacht Huy, als er seinen schlaksigen Körper entblößte und sich eine Kelle griff. »Pabast sammelt sie ein und bringt sie zu den Wäschern. Du bekommst nicht immer deinen eigenen zurück, aber das macht nichts – ein Schurz ist so gut wie der andere. Lass deine Schleife aber nicht nass werden. Nimm sie vorher ab.«
Die Jungen stellten sich an, um ihre Schüsseln und Teller mit dem gekochten Fisch füllen zu lassen, den Huy zuvor gerochen hatte und der nun kalt und mit einer Kumin-Knoblauch-Sauce sowie Zwiebeln und breiten Bohnen bedeckt war. Außerdem gab es eine dicke Linsensuppe, Brot und süße Honigkuchen. Zufrieden trug Huy sein Essen an den Rand des Teiches und machte sich darüber her.
Harnacht und Kay saßen ein Stück entfernt. Huy sah sich nach Thutmosis um und entdeckte ihn in der Tür zu seiner Kammer. Er war fertig mit dem Essen, saß im Schneidersitz auf dem Boden und beobachtete die anderen mit verschränkten Armen. Als er Huys Blick bemerkte, hob er eine Hand und nickte ihm zu. Doch er lächelte nicht.
Bis die Jungen ihr Mahl beendet und die Teller zurück zu dem Tisch gebracht hatten, tauchte der Sonnenuntergang den Hof in rotes Licht. Ein Priester, dessen weißes Gewand die sterbende Sonne tiefrot färbte, kam und klatschte in die Hände. Sofort breitete sich ehrfürchtige Stille aus. Die Jungen standen mit erhobenen Armen da. Der Mann begann zu singen, und die süßen Sopranstimmen der Jungen fielen ein in das Loblied des Gottes, der jetzt im Mund der Himmelsgöttin Nut versank. Die Musik veränderte sich, wurde zum Gebet für Res Sicherheit auf seiner langen Reise durch die zwölf Häuser der Nacht bis zu seiner erneuten Geburt. Der Gesang war so schön, dass Huys Augen feucht wurden.
Als er und Harnacht später in ihrer Kammer waren, wunderte sich der ältere Junge, dass kein Abbild von Chenti-Cheti auf Huys Tisch zu finden war. Neben seinem eigenen Bett stand eine kleine Osiris-Statue. »Erweist deine Familie dem Gott deiner Heimatstadt nicht die Ehre?«, fragte Harnacht. »Brauchst du nicht seinen Schutz? Findest du es
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