Der Seher des Pharao
»Nascha schickt dir viele Grüße. Sie ist einsam, seit Anuket geheiratet hat und weggezogen ist. Sie, Vater und ich laden sehr häufig Gäste ein, weil das Haus sonst so leer und ruhig ist. Doch wenn die Musik und all das Geplauder beendet sind, sitzen wir drei regelmäßig zusammen und sprechen über Mutter und über dich.«
»Thutmosis, du siehst so gesund und zufrieden aus.« Huy musste sich räuspern, die Emotionen schnürten ihm die Kehle zu. »Natürlich hast du die Schule beendet. Arbeitest du für Nacht?«
Thutmosis zog eine Grimasse. »Tagein, tagaus, den ganzen Tag, selbst dann, wenn jedermann das Fest des einen oder anderen Gottes feiert. Ehrlich, Huy, ich ertrinke in Listen und Zahlen, und Spaß habe ich nur, wenn Vater über den einen oder anderen Streitfall zu Gericht sitzt. Dann hocke ich neben ihm und versuche, weise auszusehen. Ich werde ein sehr nachlässiger Fürst sein, wenn Vater gestorben ist.«
Huy nahm ihn am Arm, zog ihn weiter in das Zimmer herein und deutete auf einen Stuhl. »Setz dich, mein Lieber. Ischat, geh und hol uns einen Krug Bier.«
Thutmosis schüttelte den Kopf. »Wir haben heute Morgen keine Zeit, Neuigkeiten auszutauschen, Huy. Ich habe beinahe vergessen, weshalb ich gekommen bin. Der König möchte dich sprechen.«
Huy starrte ihn mit offenem Mund an. »Was?«
Thutmosis gluckste. »Ich musste mich durch die riesige Menge kämpfen, die bereits vor einer Stunde im äußeren Tempelhof auf dich wartete. Ich musste mir vom Oberpriester den Weg zu deinem Haus erklären lassen. Es war noch nicht einmal hell, mein wundersam begabter Freund, und da waren all diese Bittsteller, die auf deine Berührung warten! Ich habe mich richtig bedeutend gefühlt!«
»Jetzt mal im Ernst.« Huy langte hinter sich, um sich auf dem Tisch abzustützen. Er zitterte. »Woher weiß der Pharao überhaupt, dass ich existiere?«
»Bist du einfältig? Du bist im gesamten Land berühmt als der junge Heiler mit den langen Haaren, der mit seiner treuen Dienerin ein so bescheidenes Leben führt. Es heißt, du kannst Tote aufwecken und die Götter in Weihrauchwolken vor dir erscheinen lassen. Egal, der Eine benötigt deine Dienste.«
»Wofür? Ist er krank? Muss ich nach Süden fahren, um ihn zu treffen? Oh, Thutmosis, du machst mir Angst!«
Thutmosis seufzte theatralisch. »Man sollte meinen, du lebst auf dem Mond. Weißt du nicht, dass sich die Stämme in Retenu gegen uns erhoben haben? Sie töten die ägyptischen Händler und Beamten, die das Recht haben, dort zu arbeiten, denn schließlich ist Retenu seit Hentis unser Vasall. Jeder neue Horus muss anscheinend zu Beginn seiner Regierungszeit eine Strafexpedition nach Retenu unternehmen, weil diese Fremden offenbar nie klug werden. Der König möchte deine Vorhersage über den Ausgang des bevorstehenden Streits mit diesen undankbaren Stammesleuten haben.«
»Er ist in Hut-Herib?«
Thutmosis runzelte abfällig die Nase. »Nun, nicht gerade in der Stadt. Die königliche Barke Chaem-Maat hat ein Stück nördlich von hier festgemacht. Das Heer hat sein Lager im Osten aufgeschlagen, wo der Horusweg anfängt. Der Pharao wird zu den Truppen stoßen, nachdem du ihm geweissagt hast.«
»Aber was ist, Thutmosis, wenn ich keine Vision habe? Das geschieht manchmal. Oder wenn ich ihn geschlagen sehe?«
»Er will die Wahrheit von dir hören. Nicht umsonst hat er seine Barke Mit Wahrheit leben genannt.«
»Und du?« Huy versuchte hektisch, den Wust von Neuigkeiten zu entwirren. »Wieso bist du bei ihm?«
Thutmosis Grinsen reichte von einem juwelengeschmückten Ohr zum anderen. »Ich bin als dein Freund und engster Vertrauter beauftragt, dich vor Sein Antlitz zu bringen, falls nötig, deine unsterblichen Worte zu interpretieren und dafür Sorge zu tragen, dass man sich bestens um dich kümmert. Unser Pharao hat sich sehr gründlich über dich und deine Familie erkundigt, seit die Kunde von deinen Heilungen und Vorhersagen Weset erreicht hat. Wenn ich will, kann ich mit Seiner Majestät nach Retenu ziehen, aber ich denke, ich bleibe ein paar Tage hier bei dir.« Sein Blick wanderte zu Ischat, die mit großen Augen zugehört hatte. »Und bei dir, Ischat. Du kannst mir alles über Huy erzählen, was er nicht selbst verrät. Das Schiff meines Vaters hat an den bedauerlich schmutzigen Anlegestufen von Hut-Herib festgemacht.«
Huy sah, wie sich ihre Blicke trafen. Zu seiner Verwunderung stieg Röte an Ischats Hals auf und breitete sich über ihre Wangen aus.
Weitere Kostenlose Bücher