Der Seher des Pharao
nehmen.«
Huy setzte sich auf die Schilfmatte, auf der der Stuhl des Königs stand, und nahm sanft die warmen, goldgeschmückten Finger in seine Hände. Er schloss die Augen. Nun Anubis, hier ist der Eine, der Gott auf dem Horus-Thron, gewiss dein Nachkomme, und bittet um deine Hilfe. Ich flehe dich an, lass mich nicht im Stich. Einen Moment lang sah er sich unter dem verächtlichen Gelächter Kenamuns gedemütigt aus der Kabine schleichen. Doch dieses Bild wurde rasch abgelöst, nicht von dem Schwindel, der üblicherweise am Beginn einer Vision stand, sondern von einer zunehmenden Dunkelheit, die so undurchdringlich wurde, als befände er sich in einer mond-und sternenlosen Nacht unter Wasser. Er war sich bewusst, dass er die Hand des Königs hielt, und es war, als würden beide, König und Seher, zurück in den Nun, in das ursprüngliche Nichts verbracht. Angst stieg in Huy auf, während er angestrengt versuchte, die Schwärze zu durchdringen.
Doch dann bahnte sich ein einzelner Lichtstrahl den Weg. Er wurde heller und traf auf einen kleinen Sandfleck, dessen Körnchen glitzerten. In seiner Mitte formte sich ein grauer, glatter Stein. Huy war bezaubert und hatte seine Furcht vergessen. Plötzlich flatterte ein Phönix mit raschelnden Flügeln am Lichtstrahl herunter und setzte sich auf den Stein. Jede seiner Federn schillerte in allen Regenbogenfarben. Bevor Huy die Schönheit des Vogels richtig erfassen konnte, schrumpfte er und wurde zu einem großen Skarabäus, der vom Stein in den Sand rollte und sein Ei vor sich herschob. Der Käfer hielt inne, richtete sich auf, sein glänzender Rückenschild wurde matter und verwandelte sich in ein Fell. Nun bleckte ein Ichneumon mit schwarzen Knopfaugen und winzigen Pfoten träge die Zähne gegen Huy. So plötzlich, wie der Lichtstrahl erschienen war, verschwand er wieder. Huy war allein im Dunkeln und klammerte sich an die Hand des Königs.
Die Stimme kam aus dem Nichts und umgab ihn doch von allen Seiten. Sie ertönte wohlklingend und klar, sodass Huy sofort wusste, dass er nicht dem leisen Brummen von Anubis lauschte. »Bin ich der Benu-Vogel, der sich auf dem Benben niederlässt?«, fragte sie. »Manche glauben es. Bin ich Cheper mit dem Ei einer neuen Schöpfung? Manche glauben es. Bin ich der göttliche Ichneumon, Bezwinger der großen Schlange Apophis? Manche glauben es. Und du, Huy, Sohn des Hapu, was glaubst du, wer ich bin?«
Huy hätte sich am liebsten niedergekauert, ganz klein zusammengerollt, so unermesslich war seine Ehrfurcht. Doch dann fand er seine Stimme. »Du bist Atum, der Neb-er-Djer, der Herr bis ans Ende von Raum und Zeit, der Allherr. Du bist das Große Er-Sie. Du hast dich selbst erschaffen.«
»Gut gemacht.« Die Stimme enthielt eine Spur von Lachen. »Ich habe meine wahren Namen in dein Herz gelegt. Gefallen dir die Gaben, die ich dir verliehen habe, Sterblicher? Nein, ich glaube, das tun sie nicht. Egal, denn trotz deines Widerstands dienst du mir und meinen Plänen für Ägypten bereits. Berichte meinem Sohn Amenhotep, was ich dir zeigen werde, und übermittle ihm diese Warnung: Er darf nicht von der Harmonie der Maat, die ich eingerichtet habe, abweichen. Denn er ist bereits versucht, das zu tun.« Sonst?, dachte Huy voller böser Vorahnungen. Was wird sonst Schreckliches geschehen?
Er nahm all seinen Mut zusammen, um den Gott danach zu fragen, aber da wurde er bereits mit erschreckender Geschwindigkeit auf einen hohen Felsen befördert. Dort war er allein, und ein heißer Wind zerzauste sein Haar. Unter ihm zog die Armee des Königs auf dem Horusweg gen Osten. Die Luft über den marschierenden Truppen war staubig. Die Szene wechselte. Nun sah Huy von der Klippe aus das Getümmel der Schlacht. Worte drängten in seinen Geist. Die Prinzen von Retenu. Dies ist Schamasch-Edom. Seine Majestät macht achtzehn Gefangene und erbeutet sechzehn Pferde. Die Menge überquert danach zwei mächtige Flüsse, kämpft gegen Tachsi und nimmt sieben seiner Prinzen gefangen. Die Stadt Nija öffnet Amenhotep ihre Tore. Jetzt rettet er seine Truppen, die in Aket liegen, vor Aufständischen. Jetzt ist er auf dem Weg zurück nach Ägypten, die sieben Prinzen aus Tachsi hängen kopfüber am Bug der Chaem-Maat.
Das große Kaleidoskop verschwand so abrupt, als würde eine Kerze ausgeblasen, und Huy kam mit einem Schrei zu sich. Er saß schweißüberströmt auf dem Boden einer Schiffskabine, und sein Kopf hämmerte so sehr, dass er bei jedem Schlag
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