Der Seher des Pharao
notierte wie immer den genauen Tag, Monat und das Regierungsjahr das Königs, an dem ›das Wasser zurückkam‹. Überall feierten die Menschen, warfen Opfergaben, Blumen und nicht selten sich selbst in den Fluss. Man fischte und jagte Vögel, und in Kers Weingärten hingen üppige rote Trauben und warteten darauf, gelesen zu werden. Am 19. Tag des Monats wurde Thot selbst geehrt, und drei Tage später folgte das Große Erscheinungsfest des Osiris. Hapu und die Gärtner waren zu sehr damit beschäftigt, ihre Körbe mit Trauben zu füllen, um mehr als ein paar oberflächliche Gebete an einem freien Vormittag aufzusagen, doch Huy stand allein in seinem Zimmer, Hände und Mund gelegentlich vom Traubensaft gerötet, und dachte zum ersten Mal über den Gott nach, der Ägypten die Schrift geschenkt hatte. Neben seinem Bett stand zwar die Statue des Lokalgotts von Hut-Herib, doch Huy betete zu dem mächtigen Thot, dankte dem Gott für seine Weisheit und bat darum, dass seine weiteren Jahre in der Schule zu Kenntnissen führen würden, die seinen Vater stolz sein ließen. »Und halte mich bitte von weiteren Dummheiten ab«, endete er, bevor er hinausrannte, um Ischat bei den Rebstöcken zu treffen. Es lagen noch über vier freudvolle Monate vor ihm, ehe die Barke seines Onkels ihn wieder nach Iunu bringen würde.
4
Die folgenden Jahre verliefen für Huy ohne größere Aufregungen. Für seine Mutter galt das nicht, denn sie gebar vier Monate nach Huys elftem Namensgebungstag einen zweiten Sohn. Hapu ging zum Markt und diktierte einem Schreiber eine entsprechende Nachricht an Huy, der sie mit gemischten Gefühlen in der Schule empfing. Er hatte gewusst, dass seine Mutter schwanger war, und die Vorfreude und die Glückwünsche mit einem gewissen Neid beobachtet. Sein ganzes Leben lang war er der Augapfel der Familie gewesen, der einzige Sohn liebender Eltern und der Liebling seiner kinderlosen Verwandten, die ihn alle unglaublich verwöhnt hatten. Nun musste er diese Zuwendung teilen. Er war froh, dass er rechtzeitig vor der Geburt in die Schule zurückkehren konnte. In einem Anfall von Eifersucht überlegte er kurz, ob sein kleiner Bruder jetzt seinen Platz im Herzen der Familie einnehmen würde, nachdem er mehr als sieben Monate des Jahres nicht daheim war und alle daran erinnern konnte, wie sehr sie ihn liebten.
Das Baby hatte den Namen Heby bekommen, und Hapus Brief zufolge war es an einem der Glückstage des Monats Mechir geboren, war gesund und hatte die Augen seiner Mutter. Huy schrieb zurück: »Da Mechir in die Wachstumszeit fällt, bete ich, lieber Vater, dass Heby so kräftig und gerade gedeiht wie Kers Pflanzen. Grüß Mutter herzlich.« Er benutzte den kostbaren Papyrus, den ihm sein Onkel am Ende des ersten Schuljahrs geschenkt hatte. Seine Schriftkenntnisse waren inzwischen nahezu vollständig. Er konnte alle Texte ziemlich schnell lesen, schrieb aber noch schwerfällig und brauchte seine Zeit zum Formen der Hieroglyphen. Nun lernte er auch die hieratische Schrift, den schnellen Ersatz der Schreiber für die ausgeformteren und schöneren Glyphen, aber es würden noch zwei Jahre vergehen, bis er die staubigen Keramikscherben, über denen er so lange geschwitzt hatte, endgültig hinter sich lassen könnte.
Seine Jugendlocke hatte ihre frühere Länge erreicht und war dann weiter gewachsen. Nun fiel sie weit über sein Schlüsselbein. Der weißen Schleife waren die gelbe, blaue und rote gefolgt, mittlerweile war ein schlichter Kupferarmreif an ihre Stelle getreten, und Huy freute sich schon jetzt auf sein zwölftes Schuljahr, in dem er den begehrten Goldarmreif tragen und auf das kommende Jahr, in dem er seinen Zopf binden durfte mit was immer er wollte. Wie seinerzeit Harnacht für ihn, würde er im nächsten Jahr wohl auch für einen Erstklässler verantwortlich sein.
Mit Ausnahme von Sennefer, der ihn weiterhin mit oft verletzender Geringschätzung behandelte, mochte er seine Kameraden alle, doch sein bester Freund blieb Thutmosis. Dank seines guten Betragens und der mit zunehmendem Alter größeren Freizügigkeit konnte er jeden Festtag bei Thutmosis’ Familie verbringen. Das große Anwesen am Fluss mit seinen vergoldeten Möbeln und den zahllosen Dienern versetzte ihn schon lange nicht mehr in Ehrfurcht, und er genoss die Zuwendung der beiden verbliebenen Schwestern Nascha und Anuket. Meri-Hathor, die älteste, war inzwischen verheiratet und lebte mit ihrem Mann weiter flussaufwärts.
Nascha erinnerte
Weitere Kostenlose Bücher