Der Seher des Pharao
erklärte er wichtigtuerisch. »Meine war viel länger. Aber dann wurde sie abgeschnitten«, fügte er lahm hinzu.
Sie zog heftig daran. »Warum? Wuchs sie nicht gerade?«
Er riss sich von ihr los. »Das war, weil man mich an einem verbotenen Ort erwischt hat«, begann er, und zu seiner großen Verblüffung erzählte er ihr alles über den Isched-Baum. Sie lauschte voller Ernst, und als er fertig war, blieb auch sie still und sah ihn nur an.
»Atum hat also diesen Baum in Iunu gepflanzt«, brach sie schließlich das Schweigen, »und es ist ein Zauberbaum, der das Geheimnis von Gut und Böse birgt. Warum machte Atum das?«
Huy blinzelte. »Ich weiß es nicht.«
»Warum bringt er so einen Baum nach Ägypten und lässt dann nicht alle an dem Geheimnis teilhaben, sodass jeder weiß, was Gut und Böse ist, und sich von dem Bösen fernhält und wir alle glücklich sein könnten. Das erscheint mir nicht klug.«
Vor Huys geistigem Auge entstand das Bild des Baums, sein fremdartiger, unwiderstehlicher Duft, in dem auch etwas unbestimmt Widerliches lag. »Du müsstest den Baum selbst sehen, Ischat«, sagte er langsam. »Der Grund, warum der Gott das getan hat, ist sicher vielfältiger, als wir uns das vorstellen können.«
Sie zuckte die Achseln. »Trotzdem verstehe ich nicht, dass man dich für das bloße Ansehen des Baums bestraft hat. Hast du meinen Skarabäus noch?« Das Thema Baum war für sie erledigt.
Früher hätte Huy auf ihre knappe Frage ähnlich kurz geantwortet. Und es lag ihm auch schon auf der Zunge zu sagen: »Das ist nicht dein Skarabäus. Du hast ihn mir geschenkt, jetzt gehört er mir.« Stattdessen sah er sie empört an. »Natürlich! Er war das ganze Jahr neben meinem Bett. Jeder wollte ihn sehen, aber nur mein bester Freund Thutmosis durfte ihn nehmen.«
Sie freute sich offenkundig darüber. Doch dann wich ihr Grinsen einem finsteren Blick. »Ich bin deine beste Freundin, Huy, nicht irgendein verzogener kleiner Junge, den du gerade erst kennengelernt hast. Hat er dir auch so etwas Schönes wie den Skarabäus geschenkt?«
»Nein, hat er nicht«, antwortete Huy wahrheitsgemäß und entschied sich, ihr nichts von Thutmosis’ Schwestern oder dem Wohlstand und der Großzügigkeit seiner Eltern zu erzählen.
»Schon gut.« Sie war besänftigt. »Hast du etwas Nützliches in deiner Schule gelernt? Kannst du meinen Namen schreiben? Zeig es mir.«
»Komm mit zum Teich.« Sie folgte ihm zu einer Stelle am Ufer, wo Itu Gemüse pflanzen wollte und deshalb die braune Erde frei lag. Huy sprenkelte einige Handvoll Wasser darüber und glättete die Erde mit der Handfläche. Dann schrieb er sorgfältig die Hieroglyphen, die Ischat ergaben.
Ischat starte die Zeichen zweifelnd an. »Das ist mein Name? Das heißt Ischat?«
»Ja. Und jetzt schreib du es.«
Doch sie drehte sich weg. »Mein bester Schurz wird schmutzig von dem Schlamm. Mutter hat ihn gestärkt, damit ich ihn dir zu Ehren tragen kann. Und überhaupt, was bringt das? Wenn ich ›Ischat‹ sagen kann und jeder andere ›Ischat‹ sagen kann, wieso soll man sich dann die Mühe machen, es zu schreiben?«
Er konnte nicht erkennen, dass es sich bei ihrer Reaktion um Selbstschutz handelte. Er verstand sie als bäuerliche Unfähigkeit, etwas zu begreifen, das nicht unmittelbar praktischen Zwecken diente. Doch Ischat war schlau. Sie konnte jede Menge komplizierter Knoten knüpfen. Sie konnte ein Ei ausblasen, ohne die Schale zu beschädigen, Tauben ins Netz locken, einen Wüstenhund dazu bringen, ihr zu folgen, sie wusste, bei welchen Blumen man den süßen Nektar aussaugen konnte und welche giftig waren. Aber in etwas scheinbar Abstraktem wie dem Schreiben sah sie keinen Sinn. Er versuchte nicht, es ihr zu erklären. Es würde nichts bringen. Diese Erkenntnis stimmte ihn traurig.
Er kniete am Teich, und sie stand über ihm, die Augen wegen der harten Nachmittagssonne zusammengekniffen, ein kräftiger Fuß über dem anderen und im Gesicht ein trotziger Ausdruck.
»Ich liebe dich, Ischat«, platzte er heraus.
»Sei nicht albern.« Ihre Miene hellte sich auf. »Was wollen wir tun, Huy? Fast fünf Monate bist du jetzt hier, ehe du wieder nach Iunu fährst. Die ganze Überschwemmungszeit. Lass uns in den Garten gehen und nachsehen, ob noch Früchte an den Bäumen hängen. Ich esse lieber Obst als das Essen von meiner Mutter. Die Wespen sind schlimm in diesem Jahr. Sei vorsichtig, mein Vater hat nicht alle ihre Nester gefunden. Übrigens hat mich kurz
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