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Der Seher des Pharao

Der Seher des Pharao

Titel: Der Seher des Pharao Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
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ganz einfach. Atum überlässt dir die Entscheidung. Er geruht, seine göttliche Weisheit mit dir zu teilen. Doch du kannst das Buch ablehnen, wenn du willst. Das hat keinerlei Folgen, du wirst nicht bestraft, wenn du das tust.«
    Huy starrte den Papyrus an, der so unschuldig auf Imhoteps Handflächen lag. »Aber wieso?«, schrie er. »Warum ich? Welchen Zweck kann ein solches Wissen haben, wenn ich doch tot, beurteilt und schon im Paradies bin?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Du hast es gelesen, Meister. Kannst du mir sagen, ob ich es entrollen oder besser geschlossen lassen soll?«
    »Nein.« Imhotep seufzte. »Du bist als kleiner Junge im Re-Tempel über den Isched-Baum gestolpert. In all den Hentis, seit Atum ihn hat pflanzen lassen, haben außer den Re-Priestern nur wenige den Baum gesehen. Vielleicht bist du in diesem Moment selbst heilig geworden. Oder der Gott hat mit voller Absicht dafür gesorgt, dass du seinen Baum entdeckst. Nur er weiß, warum du vor diese Wahl gestellt wirst. Willst du es lesen?«
    Huy nahm die Rolle und schloss die Augen. Das Papier fühlte sich warm und beruhigend an, versetzte ihn zurück in den Unterrichtssaal hinter dem Re-Tempel. Er hörte die Stimme seines Lehrers, roch die Tusche, wenn er den Pinsel eintauchte und die heiligen Zeichen, die Thot Ägypten geschenkt hatte, auf ein leeres Papyrusblatt malte. Thutmosis, dachte er traurig. Meine kleine abgeschiedene Kammer. Onkel Ker und der Fluss. Mutter, Vater … Ich werde euch nicht wiedersehen, nicht ehe auch ihr die Halle der beiden Wahrheiten durchquert habt, und nur die Götter wissen, wann das sein wird. Werde ich hier einsam sein? Es sollte mich wundern. Wenn die Papyrusrolle tatsächlich alles Wissen des Himmels und der Erde enthält, werde ich dann ein Gott wie Imhotep, wenn ich sie lese? Der Gedanke war fremdartig und unerhört. Huy musste lächeln. Er öffnete die Augen und nickte.
    »Ich will es lesen.«
    »Sehr gut. Doch erst musst du schlafen. Du hast eine lange Reise hinter dir und bist müde. Leg dich hier nieder und lehn dich an mich.« Huy merkte, wie seine Lider schwer wurden und sein Kopf summte. Die Papyrusrolle entglitt seiner Hand, und seine Wange fand die Kuhle an Imhoteps Schulter. Ehe er die Augen schloss, blickte er noch einmal nach oben in das gütige Gesicht des Mannes. Es erschien ihm, als wären an Imhoteps Ohren Haarbüschel gewachsen und als wäre die Haut, die seine Stirn berührte, rau geworden.
    »Träum, mein Kleiner, träum«, lockte die tiefe Stimme, und Huy überließ sich der Dunkelheit.

5
    Huy erlangte langsam das Bewusstsein wieder, kämpfte sich aus dem Morast, der seine Füße festhielt, um halb schwimmend, halb kletternd Grube, Brunnen oder Grab, wo er gefangen war, zu entkommen. Er konnte nicht atmen. Während er mit den Armen fuchtelte und nach Luft rang, erschienen vor seinem geistigen Auge unvollständige Bilder: zwei Götter und eine Göttin an einem schummrigen Ort, eine Hyäne, die mit einem Baumstamm verschmolz, ein weiter Garten mit rotem Gras, riesigen grünen Blüten und Teichen mit schwarzem Wasser, hoch darüber ein schrecklich unsichtbarer Himmel mit gelben Wolken. Huy wollte schreien ob dieses Wahnsinns, doch noch während er diese Dinge betrachtete, vermischten sie sich, flossen immer rascher vorbei und vermengten sich wie ölige Farben zu einem einzigen Grau, ehe sie verschwanden.
    Als er schon dachte, vor Angst und aus Luftmangel sterben zu müssen, weitete sich seine Brust, sein Herz machte einen mächtigen Satz und verfiel in den Rhythmus des Lebens. Er konnte wieder atmen. Im selben Moment fiel ihm alles wieder ein: der Isched-Baum, die betörende Schönheit des Gartens, Maat und Anubis in der Halle der beiden Wahrheiten, Imhotep, die Hyäne und die Papyrusrolle. Er merkte, dass er lächelte. Imhotep hatte ihm befohlen zu schlafen, und er hatte geschlafen. Er war gestorben. Sennefer hatte ihn getötet. Jetzt stand es ihm frei, das Osiris-Paradies zu erkunden, den Papyrus zu lesen und die Geheimnisse der Götter zu erfahren. Warum aber, dachte er mit zunehmendem Entsetzen, verströmt der Isched-Baum jetzt diesen Gestank nach Moder und Verfall, und warum ist mein Körper so schwer? Er öffnete die Augen.
    Eine in ein flackerndes gelbes Licht getauchte Gestalt beugte sich mit erhobenem Arm über ihn. Sie schien eingefroren, und als Huy den Kopf drehte, gab sie einen halb würgenden, halb grunzenden Laut von sich. »Imhotep?«, flüsterte Huy. »Bist du das?« Die

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