Der Seher des Pharao
spürte er, wie der Tod leise von unten herankam, um Besitz von ihm zu ergreifen.
Einen Moment später kniete er wieder am Rand des Sees, Wasser troff von seinem Körper auf die Steine, und seine Lungen rangen nach Luft. Keuchend und hustend kam er auf die Füße und sah sich nach Thutmosis um. Doch der Vorhof lag verlassen, und selbst die Priester zwischen den Säulen waren nicht mehr da. Auch von seinem Widersacher war nichts zu sehen. Sennefer und Samentuser waren verschwunden. Der Rasen, die Bäume der Tempel und der Vorhof lagen verträumt in einer weichen, warmen Frühlingsluft. Vorsichtig betastete Huy seinen Kopf. Er fand kein Loch in seinem Schädel, und die Berührung schmerzte nicht. Doch er wusste, dass das Wurfholz ihn so fest getroffen hatte, dass es ihn hätte töten können. In den richtigen Händen war es eine tödliche Waffe, und Sennefer hatte es mit all der Kraft geworfen, die ihm seine panische Angst verlieh. Verwundert machte sich Huy auf den Weg Richtung Tempel. Er wollte unbedingt in seine Kammer, um Thutmosis zu fragen. Er erinnerte sich deutlich an den Schlag, den ihm das Holz versetzt hatte, an seine plötzliche Blindheit, an das Wasser, das über ihm zusammenschlug – doch vielleicht hatte die gedankliche Vorwegnahme solcher Dinge, während das gekrümmte Holz in seine Richtung wirbelte, dazu geführt, dass er glaubte, es habe ihn getroffen, während in Wahrheit Sennefer schlecht gezielt und die Waffe ihn überhaupt nicht berührt hatte. Aber wo ist Thutmosis? Sennefer und das Kind sind natürlich davongelaufen, doch Thutmosis wäre doch herbeigeeilt, um zu sehen, wie es mir geht. Und es geht mir wahrlich gut.
Er sah an sich herunter und blieb stehen. Seine Füße waren nackt. Und der Rest seines Körpers auch. Hemd, Schurz, Lendentuch, alles war verschwunden. Er drehte sich um, aber auf dem See schwamm kein Stück Stoff. Durch die Bewegung tauchte etwas Helles in seinem Augenwinkel auf. Die Jugendlocke mit dem Treibholzfrosch war nach vorn auf seine Brust gefallen. Huy hob sie erstaunt hoch. Vor seinen Augen befand sich ein wunderschöner kleiner goldener Frosch mit Augen aus Lapislazuli. Die Jugendlocke mit dem Frosch fest in die Hand gepresst, blieb er bewegungslos stehen, und dann bemerkte er plötzlich die Stille um sich herum. Kein Vogel sang. Die Blätter an den Bäumen zu beiden Seiten des Vorplatzes bewegten sich nicht. Kein Plätschern der Wellen, keine Rufe von Ruderern, kein Tier und kein Mensch waren vom Fluss her zu vernehmen. Die Stille war so tief, dass er seine eigenen Atemzüge hören konnte. Nichts bewegte sich. Gleichzeitig herrschte eine Art Erwartung, die auf ihn gerichtet zu sein schien.
Huy wusste nicht, was er tun sollte. Wenn er splitternackt und triefend nass durch den Innenhof schlüpfte, um seine Kammer so schnell wie möglich zu erreichen, wäre das eine ungeheuerliche Blasphemie und würde eine schwere Strafe nach sich ziehen, wenn man ihn erwischte. Der angemessenere Weg außen herum und durch eine Tür zur Schule im hinteren Teil der Mauer bedeutete, dass er mit Sicherheit von einem Priester oder einem älteren Jungen gesehen würde, der ihn melden konnte. Oder sollte er unter den Bäumen zum Fluss rennen und schauen, ob jemand Wäsche ausgelegt oder ein Stück Tuch verloren hatte? Doch da der äußere Hof mit seinen Säulen nach wie vor ebenso menschenleer wie alles um ihn herum war, ließ Huy seine Jugendlocke los, bat Re mit einem kurzen Gebet um Vergebung, dass er sein heiliges Haus schänden würde, und machte einen Schritt Richtung Tempel.
Sofort war er von Geräuschen umgeben. Vögel zwitscherten, Blätter raschelten, das Wasser des Sees plätscherte leise gegen die steinernen Randplatten. Obwohl er wusste, dass das unlogisch war, fühlte Huy, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Als er durch den mächtigen Pylon in den äußeren Hof trat, merkte er, dass er schon vollständig trocken war.
Er erwartete, hinter dem Hof mit seinen Arkaden den mit Säulen begrenzten, überdachten Innenhof und dahinter die geschlossenen Türen zu Res Allerheiligstem zu erblicken. Doch was er sah, ließ ihn innehalten, als hätte eine riesige Faust in seinen Magen geschlagen. Seine Knie gaben nach, er konnte das Gleichgewicht nur mit rudernden Armen halten, dann stand er ehrfürchtig da und hatte seine Nacktheit vergessen.
Er befand sich am Rand eines weitläufigen Gartens, dessen saftiges, mit Blumen durchsetztes Gras sich bis zum blauen Horizont
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